Der Anlagenotstand wird die Investoren auf Trab halten, behauptet Julius-Bär-Aktienmarktexperte Christian Gattiker-Ericsson im Interview mit finews.ch.

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Herr Gattiker, der Schweizer Aktienmarkt hat ein Mehrjahreshoch erreicht, der Index inklusive Dividendenreinvestition sogar ein Allzeithoch. Überrascht Sie das?

Experten geben sich ungern überrascht – die Kursentwicklung in amerikanischen, japanischen und Schweizer Aktien ist aber doch fulminant. Im Rest Europas und den Schwellenländern geht es aber doch gemächlicher zu:  Seit Anfang Jahr mit bestenfalls einstelligen Renditen.

Welches sind die Gründe für die angesichts des nicht so tollen makroökonomischen Umfelds bemerkenswerte Performance im letzten und im laufenden Jahr?

Zum einen ist der Aktienmarkt ein vorlaufender Indikator und zeigt eine Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds über die nächsten sechs bis zwölf Monate an. Dies ist auf einer Linie mit den jüngsten Lesungen realwirtschaftlicher Grössen.


«Die Bank of Japan setzt andere Zentralbanker unter Druck»


Zum anderen haben die Zentralbanken jüngst nochmals tüchtig nachgelegt, was die Stimulierung der Wirtschaft angeht. Allen voran die Bank of Japan, die mit der ganz grossen Kelle anrichtet und die anderen Zentralbanker mächtig unter Druck setzt, nachzuziehen.

Sind die Käufer vor allem institutionelle Anleger wie Pensionskassen und Fonds?

In einem ersten Schritt reicht es, dass keine erzwungenen Verkäufer mehr im Markt sind. Ich denke da an Banken, die insbesondere in Europa ihr Familiensilber veräussern mussten, um solvent zu bleiben. Das Beispiel der Deutschen Bank hat gezeigt, dass diese Institute inzwischen auch am Aktienmarkt wieder Zugang zu neuem Kapital haben.


«Der Anlagenotstand ist ins Unermessliche gestiegen»


In einem zweiten Schritt sind dann alle trendfolgenden Investoren eingestiegen – Hedge Fonds. Die Institutionellen wie Versicherer und Pensionskassen, und ganz besonders die Kleinanleger, sind aber sicher noch hinter der Kurve, wenn man die Fondszuflüsse betrachtet. In Europa sind über die letzten zwei Jahre immer noch Nettoabflüsse aus den Aktienfonds zu verzeichnen. Und seit dem vierten Quartal 2012 erst zaghafte Zuflüsse.

Wie verhalten sich die Privatanleger? Abwesend, vorsichtige oder emsige Käufer, die den fahrenden Zug nicht verpassen wollen?

Die Privatanleger – ähnlich wie die grossen Institutionellen – stecken in der psychologischen Falle, dass sie der Hausse nicht trauen. Dagegen befürchten sie aber inzwischen, dass sie etwas Grosses verpassen. Insgesamt also eher abwartend und vorsichtig.

Gibt es in der Vergangenheit Analogien zur aktuellen Börsenentwicklung? Was ist diesmal anders als im Jahr 2000, der Dot.com-Blase?

Im Unterschied zu der Blase vor dreizehn Jahren sind die Unternehmensgewinne weltweit mehr als doppelt so hoch wie damals und die Zinsen der sicheren Häfen um zwei Drittel tiefer. Der Anlagenotstand ist inzwischen ins Unermessliche gestiegen, wenn man bedenkt, dass man im Jahr 2000 noch 6 Prozent Zins in den US-Staatsanleihen erhalten hat – jetzt sind es weniger als 2 Prozent.


Wie die «Nifty Fifty» in den sechziger Jahren


Analogien gibt es jedoch: Mir kommen da vor allem die «Nifty Fifty» in den sechziger Jahren in den Sinn: Rund fünfzig grosse Unternehmen mit internationalem Wachstum. Diese generierten eine eigene Anlageklasse, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ungeahnte Bewertungen erreichte.

Kann am Markt bereits von «überkauft» und von Bewertungen im «roten Bereich» die Rede sein?

Die Bewertung hat den langfristigen Durchschnitt übertroffen – überkauft: ja, «roter Bereich»: nein. Die Krux ist, dass langfristige Aufwärtsbewegungen immer überkauft wirken. So geschehen bei Gold zwischen 2002 und 2012. Für einzelne Branchen ist alles zwischen 10 und 15 Mal das Kurs-Gewinn-Verhältnis, rund 2 Mal Buchwert sowie 2.5 bis 3 Prozent Dividendenrendite vertretbar.

Trotz ansprechender Performance in diesem Jahr verkehren die Grossbankaktien weit unter ihren früheren Bestmarken. Wo in Ihrer Favoritenskala stufen Sie die Bankaktien ein?

Es gibt einige Lebenszeichen in der Industrie, insbesondere bei den grossen gelisteten Vermögensverwaltern wie Legg Mason oder Henderson. Die Grossbanken leiden dagegen weiter unter der Gewinnverwässerung als Folge ihrer Kapitalerhöhungen und Margenerosion auf der Zinsseite. Der Anlagenotstand lässt grüssen! Also setzen wir hier auf einen sehr selektiven Ansatz in der Auswahl der einzelnen Engagements.


Daran sind die Favoriten zu erkennen


Auf welche Kennzahlen ist bei den Bankaktien zu achten, um die Favoriten zu erkennen?

Zu Beginn der Analyse ist auf eine überdurchschnittliche Kapitalausstattung und Finanzierungssituation mit einem hohen stabilen Anteil von Depotgeldern zu achten. Ein hoher Anteil der Einnahmen aus dem Vermögensverwaltungsgeschäft ist ebenfalls höher zu gewichten.

Eine internationale Ausrichtung auf Wachstumsmärkte ist ein weiteres Plus. Wir würden auch Management-Qualität und Kontinuität hoch gewichten. Nach dieser Grundanalyse kommen dann Bewertungsüberlegungen relativ zum Risikoprofil, wie auch die Exponierung in den hochverschuldeten Krisenländern (GIIPS) ins Spiel.

Welche Favoriten kommen in dieser Ihrer Analyse heraus?

Bei den Schweizer Grossbanken bevorzugen wir derzeit UBS gegenüber Credit Suisse.


«Bei den Finanztiteln sind Helvetia und Bâloise attraktiv»


Neben den eigentlichen Bankvaloren hat der Investor zahlreiche andere Finanztitel zur Wahl. Welches sind hier Ihre Favoriten?

Bei den Schweizer Finanztiteln sehen wir Helvetia und Baloise als attraktiv an. Beide Unternehmen sind gut positioniert im hochprofitablen Schweizer Nicht-Leben-Geschäft mit hoher Ausschüttungskontinuität und ansprechender Kapitalrendite relativ zum Risiko.

Wir sehen auch Potenzial bei der Zürich, bewertungsmässig und vom Gewinnwachstum her – allerdings weniger als bei anderen europäischen Versicherern wie zum Beispiel Axa oder Allianz.


«Wehe wenn sie losgelassen...»


Ihre Prognose: Wie wird sich der Schweizer Aktienmarkt bis Ende 2013 entwickeln? Kommt bald Katerstimmung auf oder feuert die Tiefzinspolitik den Aktienmarkt weiter an?

Der Anlagenotstand wird die Anleger auf Trab halten. Deshalb sehen wir weiter Aufwärtsrisiken: «Wehe wenn sie losgelassen…». Fundamental lässt sich ein Indexniveau von über 8000 im SMI durchaus rechtfertigen; technisch von über 8400.

Richtig sportlich wird es erst dann, wenn wir die alten Höchststände ins Visier nehmen: 9500. Aber natürlich wird nicht alles wie am Schnürchen laufen. 


Christian Gattiker-Ericsson, CFA, CAIA, ist Chefstratege und Leiter Research der Bank Julius Bär sowie ständiges Mitglied des Anlageausschusses der Bank.

Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege und Aktienanalyst bei der Credit Suisse und bei einer unabhängigen Investor Relations Agentur als Consultant für börsenkotierte Unternehmen im In- und Ausland. Gattiker hat seine Studien in Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Bern abgeschlossen.

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