Raiffeisen-Chef Patrik Gisel kann sich vorstellen, die Leonteq- und Avaloq-Beteiligungen abzubauen und Banken zu übernehmen. Im Interview mit finews.ch verrät er, weshalb er immer um 5 Uhr aufsteht.


Herr Gisel, im Rahmen der Konferenzreihe «Vision Bank» diskutieren Sie demnächst über die Schweizer Finanz-Branche im Umbruch. Ein grosses Thema – doch was bedeutet es für die Raiffeisen Gruppe konkret?

Ein wichtiger Aspekt sind sicher die Auswirkungen des Negativzins-Umfelds auf den Kleinkunden. Wertschriften und das Sparkonto bringen nicht mehr viel ein – umso gefragter sind Immobilien – in zunehmendem Masse auch als Renditeobjekte.

Im Hypotheken-Bereich ist Raiffeisen deshalb im ersten Halbjahr 2016 erneut sehr gut und gesund gewachsen. Anders sieht die Situation bei den Firmenkunden aus.

Wie denn?

Bei den KMU sehen wir derzeit einen Investitions-Stau. Bedingt durch die verschiedenen Unsicherheiten halten sich die Firmen zurück und horten Cash. Allerdings könnte dieses Geld rasch wieder in Umlauf gelangen, wenn sich der Wirtschaftsausblick verbessert.

Aber unsere eigentliche Frage ging ja nach dem Zustand des Swiss Banking...

Ich glaube, dass der Konsolidierungsdruck noch grösser werden wird; einerseits bei den Privatbanken, anderseits bei kleineren Regional-Banken.

«Im Private Banking sind wir derzeit von der Grösse her subkritisch aufgestellt»

Ich rechne hier nochmals mit einer Welle von Zusammenschlüssen, in welchen wir natürlich eine aktive Rolle spielen möchten.

So?

Ich sehe Raiffeisen als aktiven Player im Konsolidierungsprozess, allerdings mit Beschränkung auf den Schweizer Markt.

Gilt das nur für Raiffeisen oder auch für Ihre Privatbanken-Tochter Notenstein La Roche?

Wir können uns gut vorstellen, auch mit der Privatbank Übernahmen zu tätigen. Im Private Banking sind wir mit derzeit rund 22 Milliarden Franken an verwalteten Vermögen von der Grösse her subkritisch aufgestellt.

Das geben Sie selber zu?

Ja. Notenstein La Roche müsste etwa doppelt so viele Kundengelder verwalten, um als Privatbank langfristig eigenständig zu funktionieren. Das ist unser erklärtes Ziel.

Wer würde denn zu Notenstein La Roche passen?

Es gibt einige gute Privatbanken in der Schweiz, die sich überlegen, wo sie in Zukunft hin wollen. Und seit der Übernahme der Basler Privatbank La Roche ist bekannt, dass wir an Zukäufen interessiert sind.

«Die Bank ist in den vergangenen Jahren einen stark akquisitorischen Kurs gefahren»

Somit gehört Raiffeisen zu den ersten Unternehmen, die kontaktiert werden, wenn sich eine neue Transaktion anbahnt. Aus unserer Sicht kommen jedoch nur steuerbereinigte Banken infrage, die hierzulande fest verankert sind. Bei Notenstein La Roche stammen rund 70 Prozent der Kunden aus der Schweiz.

Sie reden von Zukäufen. Aber nach dem kürzlichen Verkauf der Asset-Management-Tochter Vescore gewinnt man eher den Eindruck, dass Sie das «Imperium», das Sie von Ihrem Vorgänger Pierin Vincenz geerbt haben, demontieren. Trifft das zu?

Nein, die Raiffeisen Gruppe steht weiterhin zu 100 Prozent hinter der eingeschlagenen Diversifikations-Strategie. Pierin Vincenz hat diese Strategie ja auch nicht alleine, sondern in Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung definiert.

Es trifft zu, dass die Bank in den vergangenen Jahren einen stark akquisitorischen Kurs gefahren ist. Da wurde sehr viel Potenzial in verschiedenen Geschäftsfeldern eingekauft. Daher wird es in den nächsten drei Jahren vor allem darum gehen, diese PS auf den Boden zu bringen.

Wie schwierig ist es denn, in die Fussstapfen von «Übervater» Pierin Vincenz zu treten?

Pierin Vincenz hat die die Organisation Raiffeisen auf seine Weise geprägt, und ich werde mein Bestes geben, um die Gruppe auf meine Art weiterhin erfolgreich zu führen.

«Pierin Vincenz pflegte in Sitzungen erst einmal seine Sicht der Dinge darzulegen»

Wir haben viele Jahre den Kurs der Raiffeisen gemeinsam gestaltet und die Strategie gemeinsam definiert. Somit ist Kontinuität in jedem Fall garantiert.

Wie grenzen Sie sich denn ab von Pierin Vincenz? Können Sie uns da ein Beispiel geben?

Wir sind andere Typen und haben auch in vielen Bereichen einen anderen Stil. So pflegte Pierin Vincenz in Sitzungen erst einmal seine Sicht der Dinge darzulegen. Ich warte damit meist, bis ich die anderen Meinungen gehört habe.

Als wir zusammenarbeiteten – und das taten wir 15 Jahre lang – ergänzten wir uns ideal. Durch meinen Antritt hat Raiffeisen die Strategie nicht verändert, aber die Dynamik und Art und Weise der Zusammenarbeit in der Geschäftsleitung hat sich, auch bedingt durch weitere personelle Wechsel, spürbar verändert.

Das ist seit dem Verkauf von Vescore auch der Öffentlichkeit klar. Sozusagen die Gisel’sche Spitzkehre?

Das Asset Management – eine tiefmargige und hochspezialisierte Produktionsfunktion – hat sich als zu Raiffeisen-fremd herausgestellt. Als Mutterhaus konnten wir zu wenig Unterstützung leisten.

«Raiffeisen hält mit knapp 30 Prozent eine substanzielle Beteiligung an Leonteq»

So gesehen passt Vescore viel besser zur neuen Besitzerin Vontobel. Unsere Stärken liegen klar im direkten Geschäft mit dem privaten Kunden und im Vertrieb.

Sie haben Ihre Beteiligung an der Derivate-Spezialistin Leonteq noch nicht erwähnt. Die Firma macht gerade die schwierigste Phase seit ihrer Gründung durch. Der Aktienkurs stürzte zweitweise ab. Das freut Sie bestimmt nicht?

Raiffeisen hält mit knapp 30 Prozent eine substanzielle Beteiligung an Leonteq. Zudem unterhalten wir ein Kooperationsmodell im Bereich Strukturierter Produkte.

«Ich möchte bis zum Jahresende unser Beteiligungsnetz à fonds durchgekämmt haben»

Doch wir sind langfristig engagiert, selbst wenn die Firma nun in einen medialen Negativstrudel hineingeraten ist. Unter anderem mit dem Einstieg der Beteiligungsgesellschaft Veraison und dem Halbjahresabschluss, der besser ausgefallen ist als erwartet, hat die Stimmung aber gedreht.

Ist die knapp 30-prozentige Beteiligung an Leonteq nicht ein Klumpenrisiko für Raiffeisen?

Wie bereits vor einem Jahr kommuniziert, könnten wir uns mittelfristig durchaus vorstellen, einen strategischen Investor, der Interesse an Leonteq hat und Mehrwert bringt, einen kleineren Teil abzutreten. In der jetzigen Grösse generiert diese Beteiligung Volatilität in unserer Bilanz.

Wie viel würden Sie abtreten?

Eine Aussage dazu ist schwierig und kann erst bei einem konkreten strategischen Investor beurteilt werden und hängt auch von der Bewertung der Firma ab. Aufgrund des volatilen Kursverlaufes der Leonteq-Aktien ändert sich deren Bewertung in den Büchern von Raiffeisen fast täglich. Eine Bewertungskorrektur müssen wir aber nicht vornehmen.

Wie wird die Raiffeisen Gruppe in zwei Jahren aussehen?

Im Kern wird sie nicht viel anders aussehen als heute. Ich möchte bis zum Jahresende unser Beteiligungsnetz à fonds durchgekämmt haben, denn 2017 steht mit der Ablösung der IT-Plattform unter dem Projektnamen Rainbow die grösste Aktivität in der Gruppe an, die wir zusammen mit Avaloq in unserer gemeinsamen Tochtergesellschaft Arizon ausführen.

In der Branche war zu hören, Sie seien mit Ihrem Zeitplan weit im Hintertreffen.

Natürlich ist das Ganze eine grosse Herausforderung. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir im Zeitplan sind. Wir haben zwar nicht viele Reserven, aber wir arbeiten hart daran.

«Mit Avaloq raufen wir uns immer wieder zusammen»

Bis jetzt sind wir zufrieden. Zugegeben, es gab einige Probleme mit unserem Partner Avaloq, aber wir raufen uns immer wieder zusammen.

Das müssen Sie wohl, ist doch die Raiffeisen Gruppe mit 10 Prozent auch an Avaloq beteiligt.

Das stimmt, aber das betrachten wir als Finanzbeteiligung, die wir eingegangen sind, damit Avaloq’s Kapitalbasis erweitert wird, und beispielsweise das BPO-Unternehmen B-Source vollständig erwerben konnte. Eine weitergehende Beteiligung ist aber weder in unserem noch in Avaloq's Interesse. Wir werden diese Beteiligung über die Zeit eher wieder herunterfahren.

In zwei Jahren wird die Schweizer Fintech-Szene weiter Gestalt angenommen haben. Wie sehen Ihre Pläne auf diesem Gebiet aus?

Da ist unsere Aufgabe ganz klar, die Digitalisierung ins Retailbanking zu bringen. Um zukunftsträchtige Bankdienstleistungen zu entwerfen, haben wir das RAItec Lab gegründet, eine direkt mir unterstellte, vierköpfige Expertengruppe, die Trends in der Digitalisierung beobachtet und Ideen für unsere Gruppe generiert.

Konkretisiert sich schon etwas?

Es sind verschiedene Themen in Bearbeitung, aber für eine Erfolgsmeldung ist es noch zu früh. Am weitesten fortgeschritten in der Digitalisierung ist bei uns sicherlich die Online-Hypothek.

Wird die Raiffeisen Gruppe eines Tages voll digital sein?

Das glaube ich nicht. Die Frage lautet eher, wie viel Beratungsleistung wird es in Zukunft noch brauchen. Das überlegen wir uns, und fragen etwa, wie sich gewisse Services, etwa im Versicherungsbereich, digital verknüpfen lassen.

«Die ‹Grossen› werden kommen, keine Frage»

Ich bin auch für die Zukunft von der Wichtigkeit des physischen Kanals überzeugt. Er hat Priorität in unserem Geschäftsmodell, besonders wenn es um Themen wie Vorsorge, Hauskauf oder finanzielle Lebensplanung geht.

Die beiden Schweizer Bezahllösungen Paymit und Twint fusionieren, um dem US-Technologiekonzern Apple sowie mittelfristig Google Paroli bieten zu können. War dies die letzte Verzweiflungstat bevor die Grossen den Markt für sich einnehmen?

Wenn man sich die Kapitalreserven von Apple oder Google anschaut, dann besteht diese Gefahr sicherlich. Umgekehrt muss ich auch einwenden, dass es viele Hürden für einen Einstieg in den Schweizer Markt gibt, und wir mit der Mentalität hier besser vertraut sind. Die «Grossen» werden kommen, keine Frage, und sie werden «mainstream» und volumenorientiert sein. Für Schweizer Banken gibt es aber genügend Differenzierungsmöglichkeiten.

Wäre für Raiffeisen eine Partnerschaft mit Apple nicht sehr interessant?

Das ist für uns momentan keine Option, denn ich bin überzeugt, dass es hierzulande durchaus Platz hat für eine Schweizer Bezahllösung.

«Ich bin optimistisch, dass Fintech mehr neue Jobs kreiert als alte eliminiert»

Aber natürlich, es gibt Institute, die mit Apple Pay kooperieren. Der Markt wird letztlich entscheiden. Wichtig ist meines Erachtens, dass es hierzulande nicht noch drei weitere Schweizer Bezahllösungen gibt.

Ist Fintech ein Job-Killer?

Gute Frage. Um sie mit Gewissheit beantworten zu können, müsste ich Prophet sein. Sagen wir es so, ich bin optimistisch, dass Fintech schliesslich mehr neue Jobs kreiert als alte eliminiert. Natürlich ist das eine Generationenfrage, es gibt selbstverständlich Leute, die Mühe haben mit dem Wandel. Aber letztlich schafft der Wandel auch neue Jobs, sofern die Schweiz die nötigen Rahmenbedingungen dafür schafft.

Das heisst?

Fintechs müssen hierzulande willkommen sein und sich wohl fühlen. Man darf sie nicht steuerlich totschlagen.

«Es ist eine Tatsache, dass wir die Anzahl Standorte deutlich reduzieren»

Ausserdem muss man Partnerschaften prüfen, etwa mit der ETH. Das schafft neue Jobs. Die Schweiz hat gute Möglichkeiten, sofern die Politik mitspielt.

Nochmals zu unserer Jobfrage: Werden Sie Ihren Personalbestand in den nächsten Jahren angesichts der Digitalisierung überdenken müssen?

Entscheidend für Raiffeisen ist und bleibt die Nähe zum Kunden, unabhängig ob digital oder real. Wir haben in den vergangenen Jahren im Schnitt 100 bis 200 neue Stellen geschaffen. Letztes Jahr waren es aufgrund des Rainbow-Projekts sogar 300. Auf diesem Niveau (100 bis 200) werden wir weiterfahren, aber gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass wir die Anzahl Standorte deutlich reduzieren.

Können Sie das quantifizieren?

Ich denke, unsere Filialdichte wird in den nächsten zwei Jahren auf 800 Standorte sinken. Aktuell sind wir bei rund 980 Geschäftsstellen von insgesamt 270 juristisch eigenständigen Genossenschaftsbanken.

Was hat Sie eigentlich motiviert, in die doch recht grossen Fussstapfen von Pierin Vincenz zu treten?

Seine Nachfolge antreten zu können, ist der Höhepunkt meiner Karriere – nach 15 Jahren bei Raiffeisen. Als das Angebot an mich herangetragen wurde, musste ich nicht lange überlegen. Ich bin auch völlig überzeugt von dem Geschäftsmodell.

«Ich habe jedes Wochenende eine Verpflichtung und unter der Woche praktisch keinen freien Abend»

Ich bin ein grosser Verfechter der genossenschaftlichen Struktur. Sie passt gut zum Banking, wie wir es verstehen. Es ist nachhaltig und transparent. Gleichzeitig findet eine intensive Auseinandersetzung mit den Kunden statt.

Manager sollten einen Ausgleich zum Job haben, sonst ist ihr Engagement nicht nachhaltig. Wo finden Sie die Gegenwelt zum Berufsalltag?

Meine Präsenzzeit ist zwar massiv gestiegen, aber ich arbeite volumenmässig nicht substanziell mehr als vorher. Es sind vor allem die Repräsentationsaufgaben, die stark zugenommen haben. Empfänge, Veranstaltungen, Podiumsdiskussionen, das alles kann man nicht delegieren. Aber ich muss sagen, dass mir das gefällt. Ich habe jedes Wochenende eine Verpflichtung und unter der Woche praktisch keinen freien Abend. Aber ich mache das alles sehr gerne. Mein Ausgleich ist der Sport. Das ziehe ich durch.

Darum also dieses merkwürdige Utensil an Ihrem rechten Handgelenk?

Das ist kein Blutdruckmesser, wie viele Leute meinen, sondern ein «Bewegungstracker». Er misst meine Aktivität, sprich, wie viele Schritte ich pro Tag mache.

Und?

Heute Abend werden es sicherlich 30'000 sein, weil ich früh am Morgen 15 Kilometer gejoggt bin. Ohne Sport sind es in der Regel 10'000 bis 15'000 Schritte. Aber ich achte darauf, dass ich genügend Sport treibe.

Dann müssen Sie aber früh aufstehen.

Ja sicher. Ich stehe jeden Tag um 5 Uhr auf und eine Viertelstunde später bin ich bereits beim Sport. Das gibt mir ein gutes Gefühl, besonders wenn meine Tage so lang und vielfältig sind. Da kam es schon vor, dass ich morgens mit einer Gruppe von Lehrlingen diskutiere, später den Bundespräsidenten an einem Roundtable treffe, und, nach der Arbeit im Büro, abends noch an einer Podiumsdiskussion teilnehme.


Der 54-jährige Patrik Gisel ist seit Oktober 2015 CEO der Schweizer Raiffeisen-Gruppe. Er studierte Betriebswirtschaft und promovierte an der Hochschule St. Gallen. Bevor er zu Raiffeisen stiess, arbeitete er als Berater bei der Boston Consulting Group sowie in der IT der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG), später UBS.

Aufgrund seiner Erfahrung und heutigen Funktion nimmt Gisel auch Einsitz in diversen Verwaltungsräten, unter anderem bei der Pfandbriefbank, Helvetia, Notenstein La Roche, Leonteq, Arizon, Six Group und bei der Schweizerischen Bankiervereinigung.

Welche Schweizer Privatbank bietet an der Börse nun das grösste Potenzial?
Welche Schweizer Privatbank bietet an der Börse nun das grösste Potenzial?
  • Julius Bär, weil der Kurs seit dem Signa-Debakel genügend gesunken ist.
    20.2%
  • Vontobel, weil das Unternehmen 2024 die Wende im Asset Management schaffen wird.
    8.78%
  • EFG International, weil die Bank keinerlei interne Probleme bekundet und stark wächst.
    14.89%
  • UBS, weil die Grossbank auch als Privatbank enormes Potenzial bietet.
    46.47%
  • Banque Cantonale Vaudoise, weil sie unter den Kantonalbanken ein grosses Private Banking anbietet.
    9.66%
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