Gebhard Kirchgässner, Professor an der Unversität St. Gallen, über die Trugschlüsse der Banker, den Homo oeconomicus und die Unsicherheit von Prognosen.  

Das Interview mit dem Wissenschaftler Gebhard Kirchgässner führte Bernd Kramer, Wirtschaftsredaktor bei der «Badischen Zeitung».

Herr Kirchgässner, die Banker haben bei ihrer Risikobewertung vor der Krise mit ökonomischen Modellen gearbeitet, die auf der grobschlächtigen Vorstellung des Homo oeconomicus beruhten. Sie haben das, was sich daraus ableiten lässt, für die Realität gehalten und entsprechend gehandelt. Am Ende krachte das Finanzsystem zusammen. Ihr Fazit?

Die Banker haben sich vor allem routinemässig verhalten. Wenn ein Banker über mehrere Jahre ohne Probleme Geld von anderen Banken bekommt, um die eigene Bank zu finanzieren, wird er nicht davon ausgehen, dass dies von heute auf morgen anders sein wird. Genau dies war aber der Fall nach der Lehman-Pleite. Die Banken liehen sich gegenseitig kein Geld mehr.

Normalerweise gehen Abweichungen von der Routine mit geringen Schäden für die Allgemeinheit einher. Was die Finanzkrise verschlimmerte, war der Umstand, dass die Bank-Mitarbeiter die von Physikern und Mathematikern entwickelten Modelle häufig überhaupt nicht verstanden. Sie haben vielmehr blind auf sie vertraut.


«Niemand erwartete einen solchen Einbruch»


Zum Teil sind im Finanzsektor auch Dinge geschehen, die kriminell waren. Menschen Hauskredite aufzuschwatzen, die sie nur zurückbezahlen können, wenn die Hauspreise enorm steigen, ist mit den Grundsätzen eines ehrbaren Kaufmanns nicht vereinbar. Wenn so etwas wie in den USA geschieht, ist eigentlich klar, dass auf kurz oder lang der Immobilienmarkt zusammenbrechen muss.

Keinem aber war bewusst, dass das Platzen der Immobilienblase in den USA einen derart massiven Einbruch der Weltwirtschaft mit sich bringt. Frühere Finanzkrisen sind weit weniger dramatisch verlaufen.

Ist das Menschenbild des Homo oeconomicus nicht amoralisch? Dieser strebt einzig und allein nach viel Eigennutz. Von Mitgefühl und Solidarität ist keine Rede.

Vorsicht! Der Homo oeconomicus gleicht nicht einer Vorgabe, wie sich Menschen verhalten sollen. Vielmehr dient diese Vorstellung dazu, das Verhalten des Menschen so abzubilden, wie es in vielen Fällen ist. Die Frage, ob die Annahmen des Homo oeconomicus gut oder schlecht sind, ist keine Frage der Moral.


«Der Homo oeconomicus ist nicht neidisch»


Man muss dieses Modell vielmehr danach bewerten, ob es zur Erklärung der Wirklichkeit taugt. Das gelingt recht gut, zumindest was das Geschehen auf Märkten anbelangt. Wenn Menschen im Supermarkt einkaufen gehen, werden sie bei ihren Kaufentscheidungen auf ihren Geldbeutel schauen und vor allem Preis und Qualität der angebotenen Waren berücksichtigen. Sie machen sich nur selten darüber Gedanken, ob die Verkäuferin von ihrem Chef gut behandelt wird.

Der Homo oeconomicus ist in moralischer Hinsicht auch ziemlich neutral. Er denkt zwar nicht explizit an das Wohl der anderen, ist aber auch nicht böswillig, ist nicht neidisch, launisch oder eifersüchtig.

Ökonomie-Studenten werden tagaus, tagein mit dem Homo oeconomicus konfrontiert. Laufen die jungen Menschen nicht dadurch Gefahr, zu unsozialen Eigennutz-Maximierern zu werden?

Bei Experimenten hat sich gezeigt, dass Studenten der Wirtschaftswissenschaften eigennütziger handeln als Vertreter anderer Studienrichtungen. Die Unterschiede waren aber nicht so gravierend, wie man vielleicht annehmen würde. Die Kernfrage ist, ob dieses Verhalten von unserer Erziehung abhängt oder Ergebnis einer Selektion ist. Vermutlich spielt beides eine Rolle.


«Die Krise ist mit Unsicherheiten behaftet»


An die Universität St. Gallen kommen vor allem junge Menschen, die Manager oder Banker werden und später viel Geld verdienen möchten. Ob unser Unterricht sie darin bestärkt, vermag ich nicht zu sagen. Ich kenne aber auch genügend Ökonomen, die sich in hohem Masse um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen kümmern.

Viele denken heute, dass die Ökonomie mehr eine Glaubenslehre als eine Wissenschaft ist. Der eine Volkswirtschaftler hält die Eurorettung für Teufelszeug, der andere sieht ohne sie Europa untergehen.

Man muss den Ökonomen zugute halten, dass die gegenwärtige Krise mit enormen Unsicherheiten behaftet ist. Letztlich weiss keiner genau, was beispielsweise passieren würde, wenn ein Land aus der Eurozone austreten würde. Unter solchen Bedingungen ist es nachvollziehbar, dass unterschiedliche Ökonomen zu verschiedenen Einschätzungen kommen.


«Der Euro ist nicht unproblematisch»


Die Debatte um den Euro bringt aber auch differierende politische Vorstellungen unter Wirtschaftswissenschaftlern zutage. Wenn ich davon überzeugt bin, dass der Euro als politisches Projekt zur Bewahrung des Friedens unbedingt erhalten werden muss, werde ich etwas anderes vorschlagen, als wenn ich den Euro für verzichtbar halte.

Die Debatte um den Euro in Deutschland krankt auch daran, dass der Euro von Ökonomen häufig allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen wird. In dieser Hinsicht ist er in der Tat nicht unproblematisch.


«Eurozone: kein optimaler Währungsraum»


Die Eurozone ist kein optimaler Währungsraum. Nur sollte man nicht vergessen, dass der Euro letztlich der politische Preis war, den Deutschland zahlen musste, um die Wiedervereinigung zu bekommen. Sonst hätten die anderen – insbesondere Frankreich – nicht zugestimmt.

Ist die Haltung «Mehr ist besser» in Zeiten höherer Ressourcenknappheit und steigender Umweltbelastung in den Schwellenländern noch vertretbar?

Ja. Wir können den Schwellenländern nicht guten Gewissens verbieten, dass sie sich entwickeln wollen wie wir. Das wäre für mich im hohen Masse unmoralisch. Ich kann selbst meinen Konsum einschränken, aber ich darf das anderen nicht vorschreiben – insbesondere nicht Entwicklungsländern, die sich auf einem deutlich niedrigeren Einkommensniveau befinden als wir.


«Kernenergie birgt zu hohe Risiken»


Man muss auch Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum auseinanderhalten. Den im Auto verwendeten Stahl kann man wiederverwenden, ebenso seltene Metalle aus dem Handy. Um neue Produkte daraus zu schaffen, braucht man aber zusätzliche Energie. Letztlich stehen wir also vor einem Energieproblem, weil die fossilen Energieträger wie Erdöl und Gas begrenzt sind. Darauf müssen wir Antworten finden, wobei die Kernenergie keine Lösung ist.

Sie birgt zu grosse Risiken. Wirtschaftswachstum wird es aber weiter geben – so lange die Menschen neue Ideen haben und daraus neue Produkte entwickeln oder die Herstellung von Gütern dank neuer Techniken verbessern. Hätten wir diese Ideen nicht, wäre das eine ziemlich traurige Welt.

Ökonomen bombardieren die Öffentlichkeit mit Prognosen. Sie sind oft unterschiedlich und weichen mitunter stark von den tatsächlichen Werten ab. Sollten die Ökonomen das Prognosegeschäft nicht lieber einstellen?

Prognosen sind ohne Zweifel unsicher. Wir haben uns aber daran gewöhnt, wirtschaftliche Vorhersagen auf die zweite Stelle hinter dem Komma genau für bare Münze zu nehmen. Dass Prognosen ungenau sind, ist aber der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln.


«Das Ziel ist ein Erkenntnisgewinn»


Nehmen Sie das Beispiel einer Wahlprognose: Ein Institut sagt für die FDP oder die Linke 4,9 Prozent der Stimmen für die Bundestagswahl voraus. Erhält die Partei drei Prozent, hat der Wahlforscher richtig gelegen: Die Partei zieht nämlich nicht in den Bundestag ein.

Bekommt die Linke oder die FDP aber 5,1 Prozent und kommt in den Bundestag, war die Prognose zwar statistisch deutlich besser, aber wird eher als falsch angesehen, da diese Partei – entgegen der Prognose – in das Parlament einzieht.

Welches Ziel soll die Volkswirtschaftslehre überhaupt haben? Soll sie allein dem Erkenntnisgewinn dienen oder den Menschen dabei helfen, ein Leben in Freiheit, Würde und Wohlstand zu führen?

Wissenschaft hat immer zunächst das Ziel des Erkenntnisgewinns. Wenn aber eine Gesellschaft Wissenschaft betreibt und finanziert, hat sie den berechtigten Anspruch, dass die Wissenschaft Menschen hilft, Schwierigkeiten ihres alltäglichen Lebens zu bewältigen.


«Suche nach besseren Lebensbedingungen»


Wissenschaft ist aus der Suche nach besseren Lebensbedingungen heraus entstanden. Wir dürfen jedoch von der Wissenschaft nicht verlangen, dass sie sich stets und ausschliesslich an den praktischen Fragen des Lebens orientieren muss. Dann wird sie unfrei und leistet langfristig möglicherweise auch weniger zur Bewältigung dieser Probleme.


Der 65-jährige Gebhard Kirchgässner lehrt an der Universität St. Gallen. Der Deutsche gehört zu den profiliertesten deutschsprachigen Ökonomen. Über den Homo oeconomicus («Homo Oeconomicus», Mohr Siebeck, Tübingen) hat der Wissenschaftler, der sich gern mit grundsätzlichen Fragen beschäftigt, auch ein Buch verfasst.

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