Gold liebt nichts so sehr wie Ironie. Und heute, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges, besteht für London die Gefahr, endgültig seine Dominanz im Finanzbereich zu verlieren.

Von Steffen Grosshauser, European Operations Executive beim Gold- und Silberhändler BulllionVault

Manch einer mag dazu geneigt sein, wieder den Krieg in einer kleinen Ecke Europas dafür verantwortlich zu machen. Und wieder geht es darum, dass ein mächtiges Land von seinem kleinen Nachbarstaat eine Entschuldigung verlangt. Angefangen hat alles im Jahr 1914.

«Es kann passieren, dass hier Kaffee von Brasilien nach Hamburg oder Kaninchenfelle von Australien nach New York verkauft werden», bemerkte ein Londoner Bankkaufmann unmittelbar vor der Julikrise in 1914. Aber was auch immer wohin verkauft und transportiert werden sollte, so «wickelten die Käufer und Verkäufer ihre Transaktionen in London ab».

Das Empire brach zusammen

Einer der wenigen Bereiche, in denen das heutzutage immer noch zutrifft, ist der physische Gold- und Silbermarkt. Denn insgesamt zerbrach das Britische Empire in den darauffolgenden drei Jahrzehnten, und Grossbritannien verlor seine Vorherrschaft in sämtlichen anderen Sektoren.

US-Banken übernahmen die Abwicklungen von weltweiten Geschäftsaktivitäten, und der Dollar wurde wichtiger als das britische Pfund, nachdem bei der neu geschaffenen Währungsordnung der Dollar als Ankerwährung festgesetzt worden war. Das entsprechende Bretton-Woods-System feiert dieser Tage ebenfalls ein grosses Jubiläum, nämlich sein 70stes.

Londons neue Rolle als Clearingstelle

Doch obwohl Grossbritannien über keinerlei Minenproduktion verfügt und eine kaum nennenswerte Verbrauchernachfrage oder Kapazität zur Veredelung vorzuweisen hat, sitzt hier nach wie vor der weltweit wichtigste Markt für physisches Edelmetall. Mit seinen speziellen Tresoren werden hier die marktüblichen so genannten Good-Delivery-Barren gehandelt, die ihre Besitzer von Arizona nach Peking und von Perth nach Katar wechseln.

Aber in sämtlichen anderen Bereichen begann im Sommer 1914, Londons Rolle als Clearingsstelle der Welt abzunehmen. Genauer gesagt fing dies in dieser Woche vor genau 100 Jahren an.

Das Attentat von Sarajewo

Nach dem Attentat von Sarajewo, bei dem Erzherzog Franz Ferdinand ermordet wurde, stellte Österreich-Ungarn am 23. Juli 1914 ein Ultimatum an Serbien. Jedoch erhielt das Ultimatum zehn Forderungen, die offensichtlich bewusst unannehmbar verfasst worden waren. Von daher erschien eine kriegerische Auseinandersetzung nahezu unausweichlich. Am nächsten Morgen gerieten die Finanzmärkte in Panik, die laut Aussage von Niall Ferguson bislang recht kühl reagierte hatten.

Doch plötzlich befanden sich die Londoner Banker – die zu jener Zeit die Gläubiger bei rund der Hälfte aller weltweiten Handelsgeschäfte waren – in der Situation, dass ihre Schuldner das Geld nicht mehr zurückzahlen konnten. Denn diese konnten anderswo keine neuen Kredite aufnehmen, die zur Begleichung ihrer Schulden nötig gewesen wären.

Lange Warteschlangen

In seinem neuen Buch «Saving the City» erklärt Richard Roberts, wie die Finanzmärkte am darauffolgenden Montag geschlossen wurden. Nachdem am Dienstag offensichtlich wurde, dass wichtige Aktien wie die von Kupfer-Riesen Rio Tinto innerhalb einer Woche 25 Prozent ihres Werts eingebüsst hatten, wurden zum ersten Mal seit 1801 die Handelsgeschäfte an der Londoner Börse vorübergehend eingestellt.

Am Mittwoch, den 31 Juli 1914, hörten dann auch die Geschäftsbanken in Grossbritannien auf, Gold an ihre Sparer auszugeben, die in langen Warteschlangen auf die Auszahlung ihrer Einlagen warteten. Der Bank-Run weitete sich schliesslich sogar auf die Bank of England, die Zentralbank des Vereinigten Königreichs.

Die Menschen standen an, um die 5-Pfund-Scheine, die sie zuvor erhalten hatten, in Sovereign-Goldmünzen einzutauschen. Auf diese Weise floss innerhalb von drei Tagen Edelmetall im Wert von 6 Millionen Pfund ab. Um den Abfluss aufzuhalten, wurde der britische Sommerfeiertag auf die Zeit vom 1. bis 7. August ausgedehnt. Allerdings erklärte Grossbritannien zwischenzeitlich am 4. August Deutschland den Krieg.

Der Goldstandard

Der Goldstandard untermauerte bis dahin das ganze Finanzsystem, da bei Banken Geld gegen Gold eingetauscht werden konnte und dieses als anerkanntes Äquivalent der wichtigsten Währungen der Welt galt. Doch dieses Währungssystem verlor an Bedeutung, nachdem die Kanonen und Gewehre im November 1918 endlich verstummten, und hat sich nie wieder erholt.

Denn es basierte auf dem britischen Empire und der finanziellen Dominanz Londons. Fortan wurden Goldtransporte immer häufiger durch Überweisungen ersetzt. Und anstelle der Bank of England waren nun die US-Notenbank oder die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich herangezogen.

Goldfenster geschlossen

Französische Kriegsschiffe verfrachteten Edelmetall nach Paris, und Flugzeuge der russischen Aeroflot brachten Gold aus dem Moskauer Kreml nach Kanada, um es dort gegen Weizen einzutauschen.

Der Goldstandard war vor allem zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg vorherrschend. Es war US-Präsident Richard Nixon, der 1971 endgültig das so genannte Goldfenster schloss und dadurch die Goldbindung des Dollars aufhob.

Schwer zu tragen

Heute sind amerikanische Banken für die Abwicklung von weltweiten Handelsgeschäften so wichtig wie es vor einem Jahrhundert die Londoner City war. Aber falls eines Tages diese Abwicklungsweise nicht mehr verfügbar oder vertrauenswürdig sein sollte – sei es auf Grund des Kreditausfallrisikos oder aus politischen Gründen – wird das bisherige System entweder zusammenbrechen (so wie es nach dem Bankrott von Lehman Brothers geschah) oder durch andere Kanäle ersetzt werden.

Laut dem Kolumnisten John Dizard «ist Gold schwer zu tragen und muss oft zuerst neu untersucht werden, bevor es als Zahlungsmittel akzeptiert werden kann». Aber um dieses Misstrauen der Händler untereinander aus dem Weg zu räumen, wurde auf dem Londoner Goldmarkt eine so genannte Integritätskette geschaffen, welche die Qualität der Barren garantiert.

Neo-klassischer Gold-Standard

«Es werden kaum Transaktionen in Gold fakturiert», fügt Dizard hinzu. «Statt zur Preisangabe wird es vielmehr als Mittel zur Zahlungsabwicklung genutzt.» Insofern ist Gold nach wie vor bei internationalen Handelsgeschäften sehr beliebt.

Willkommen also zu einer Art des neo-klassischen Goldstandards. Und aus diesem Grund dauert auch Londons primäre Funktion als Verrechnungsstelle für physisches Edelmetall noch bis heute an. Aber wie lange noch? Nun, wir werden es sehen.