Der Jurist und frühere UBS-Präsident Peter Kurer beschreibt in einem persönlichen Essay für finews.ch Stimmungen und Befindlichkeiten auf einer spätherbstlichen Geschäftsreise quer durch Europa.    


Dieser Beitrag von Peter Kurer erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first erscheint in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch ausschliesslich bei den Herausgebern von finews.ch Bisherige Texte von Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli und Oliver Berger.


Ein wundersames Zusammenfallen von lang geplanten Geschäftsvisiten und einigen dringenden Angelegenheiten, die später dazu kamen, führten mich letzte Woche auf eine eilige Dienstreise quer durch Europa, von Zürich nach Amsterdam, dann London, Dublin, Paris, Wien und zurück in die Schweiz.

Überall war das gleiche Bild: Spätherbstliche Böen trieben das letzte Laub und kalten Regen durch schwarze Strassenschluchten. Auch jenseits der Meteorologie scheint der Spätherbst in Europa angebrochen zu sein: Während der kurzen Woche fielen mir drei Ereignisse auf: Das dänische Stimmvolk entschied sich gegen mehr Europa. Die EU-Innenminister diskutieren die Aussetzung des Schengen Abkommens, das dem eiligen Geschäftsreisenden ein so einfaches Bewegen im europäischen Raum ermöglicht. Und schliesslich wird sichtbar, dass sich die Verhandlungen über das Verhältnis der Engländer zur EU sowohl zeitlich wie auch inhaltlich als schwerer denn erwartet erweisen.

«Man geht von Expansion aus, auch wenn wie überall die Margen enger werden»

Aber es hat Lichtblicke in Europa: Einer ist sicherlich Amsterdam. Schiphol ist trotz seiner Grösse immer noch ein einwandfrei funktionierender Flughafen, und von dort bringt uns ein Vorortszug direkt ins Geschäftsviertel. Die Niederlande durchliefen bis vor kurzem eine schwere Rezession, haben aber nun auf einen gesunden Wachstumspfad zurückgefunden.

Die Stimmung unter unseren Geschäftsfreunden ist deshalb zuversichtlich, man geht von Expansion aus, auch wenn wie überall die Margen immer enger werden. Was mich aber darüber hinaus beeindruckt hat, ist, wie stark Amsterdam sich über die Jahre zu einer modernen Vorzeigemetropole entwickelt hat. Das Land tut sich so leicht wie die Schweiz mit der Integration fremdstämmiger Bewohner, wesentlich leichter jedenfalls als Frankreich, England oder Österreich.

Die Qualität der Museen ist so hoch wie sonst nur in London oder Paris, und Hotels wie das Conservatorium oder Restaurants wie der Harbour Club haben an weltmännischer Geläufigkeit ihre Vorbilder in New York oder London erreicht, wenn nicht übertroffen. Jedenfalls erinnert mich das daran, dass wir in der Schweiz, wenn es um Museen, Restaurants und Hotels geht, zwar über solide Qualität verfügen, aber immer auch noch etwas provinziell bleiben.

«David Cameron ist für mich der herausragende europäische Politiker der letzten Jahre»

In London stehen die Zeichen wieder einmal auf Boom. Allenthalben recken sich Baugespanne, Kräne und halbfertige Wolkenkrater in die Höhe. Die City ist betriebsam wie zu besten Zeiten. England hatte seit langem auf eine einseitig auf die Finanzindustrie ausgerichtete Wirtschaft gesetzt und wurde deshalb in der grossen Bankenkrise von 2007 bis 2009 besonders hart getroffen.

Letzten Endes ging das Land beinahe bankrott, die Regierung übte indessen entgegen den ungefragten Ratschlägen der Keynesianer der «Financial Times» und der Linken strikte fiskalpolitische Austerität, und behielt damit Recht. Nicht Angela Merkel, sondern David Cameron ist für mich der herausragende europäische Politiker der letzten Jahre.

Er sieht aus wie ein wohlmeinender Teddybär, hat aber eine eiserne Faust. Mit dieser hat er zuerst die schottische Rebellion und danach alle seine politischen Gegner von rechts und links zerschlagen. Dies ist auch einmal mehr Beweis dafür, dass die Tories die geschickteste Volkspartei Europas sind, weil sie Pragmatismus mit einem feinen Sensorium für die wirklichen Anliegen der Wähler verbinden.

Normalerweise politisieren sie wirtschaftspolitisch liberal und gesellschaftlich konservativ in einer sauber definierten Mitte, können aber nach links oder rechts ausbrechen, wenn das gerade notwendig sein sollte, wie beispielsweise jetzt, wenn es darum geht, der rechtspopulistischen Hydra UKIP den Kopf abzuschlagen.

«Mein Kollege landete statt in der City auf einem Flugplatz im Niemandsland»

Indessen hat England auch einige nicht zu übersehende Probleme. Das eine ist das Gefälle zwischen dem reichen Süden um London und dem zurückgebliebenen Norden um Liverpool, Manchester und Leeds. Interessanterweise scheint sich das aber dank der Wirtschaftspolitik der Regierung und der Überlastung der Metropole langsam zu korrigieren. Viele Banken und Dienstleistungsorganisationen lagern ihre Backoffices zunehmend in den Norden aus.

Ein zweites Problem ist, dass auch von diesem wie bereits von dem letzten Boom einige wesentlich mehr profitieren als andere, die zurückgelassen werden. Für die Leute ohne feste Jobs oder klar definierte Kompetenzen ist das Leben hart, viel härter als hier, gleichgültig ob sie in London wohnen oder im Norden. Schliesslich ist die Infrastruktur der Metropole durch die rasche Entwicklung überfordert. Züge und Untergrundbahnen verkehren zu langsam und unzuverlässig. Der Flugverkehr ist nicht besser.

Mein Flug von Amsterdam nach London wurde wegen technischer Probleme abgesagt, der Ersatzflug war dann drei Stunden zu spät. Mein Kollege landete statt in der City auf einem Flugplatz im Niemandsland, genannt Southend. Der spätere Weiterflug nach Dublin verzögerte sich wegen vergessener Gepäckstücke im Fingerdockbereich.

Am Gate wurde ich für zehn Minuten als ein Verdächtiger zurückgehalten, weil sich bei der elektronischen Gesichtskontrolle eine Verwechslung mit einem bereits eingestiegenen Passagier ergab. Die Betreuer von British Airways, ansonsten eine ordentliche Airline, denen ich zu meinem eigenen Amüsement meine ganze Saga erzählte, nahmen es gelassen: «A bad day for BA», kalauerten sie. Very British.

«Bereits spricht man vom keltischen Phönix»

Kaum ein Land hat die Krise härter getroffen als Irland. Staat und Banken gingen faktisch bankrott. Das Bruttosozialprodukt brach um rund 10 Prozent ein. Die fantastische Geschichte vom keltischen Tiger, der direkt von einem armen Agrarstaat in eine moderne Dienstleistungindustrie springt, war vorbei. Nun wächst die Ökonomie des Landes aber wieder stark. Bereits spricht man vom keltischen Phönix.

Indessen bleiben aber auch einige der alten Probleme. Das Wachstum ist im wesentlich eine Geschichte der von der Regierung stark geförderten Dienstleistungs- und Produktionszentren ausländischer Konzerne, die von einem günstigen Steuersystem profitieren wollen. Ansonsten bleibt das Land im Wesentlichen auf Landwirtschaft und Tourismus beschränkt. Das Wachstum wird zudem, wie das letzte Mal, durch die lockere Geldpolitik der EZB beflügelt, die hier wirkt, wie wenn man mit einem überdimensionierten Blasbalg in ein zu kleines Cheminée hineinbläst.

Auf dem Weg zum Flughafen frage ich meinen Taxifahrer, ob die Leute zufrieden seien. Er verneint es, und sagt, dass das Land drei wesentliche Probleme nicht gelöst habe: Private Schulden, die Lage am Wohnungsmarkt und das Gesundheitswesen. Trotz raschem Wirtschaftswachstum ist die Bevölkerung mit der Regierung völlig unzufrieden, was eine Anomalie ist, die mich aufhorchen lässt.

«Mein Geschäftspartner hat im Bataclan einen seiner engsten Mitarbeiter verloren»

Paris ist im Belagerungszustand: Polizei und Militär patrouillieren in Gefechtskolonnen durch die Stadt, und überall stehen Strassengitter, die rasch in Stellung gebracht sind, um die Bewegung von Volksmassen zu lenken. Die schrecklichen Ereignisse vor drei Wochen liegen immer noch in der Luft.

Mein Geschäftspartner hat im Bataclan einen seiner engsten Mitarbeiter verloren, und seine anhaltende Trauer berührt mich. Die Politik bewegt sich indessen in die falsche Richtung: statt endlich die grossen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu adressieren, statt den Leuten klar zu machen, dass Paris immer noch viel sicherer ist als New York, gebärdet sich Präsident Hollande als starker Mann und beschwört den Kriegszustand herbei, um seine zuvor nicht mehr existierenden Wiederwahlchancen zurück ins Lot zu bringen. Was ihm vielleicht gelingt, wie meine Kollegen meinen, nicht zuletzt weil die Bürgerlichen noch keine überzeugenden Alternativen anbieten können: Juppé zu alt, Sarkozy zu unbeliebt und Le Maire zu jung und zu harmlos.

Indessen tut all dies der Eleganz der grossen Stadt keinen Abbruch. Hinter den Strassengittern und nun sorgfältig von Polizisten mit Maschinenpistolen bewacht, glitzern die teuren Auslagen der Geschäfte am Faubourg St Honoré wie eh und je, und das Bristol bleibt auch in der schockierenden Zeit majestätisch und erhaben. «Beaucoup des nos clients ont annullés leurs visites», sagt mit der Concierge. Man sieht es seiner Miene an: Ihn betrüben weniger die ohnehin immer vorhandenen wirtschaftlichen Fährnisse als die Tatsache, dass er seine vorweihnachtlichen Stammkunden dieses Jahr nicht persönlich begrüssen darf.

«Es ist ein Tanz am Abgrund»

In Wien endlich hellt sich das Wetter auf. Entlang der neuen Luxusmeile hinter den Tuchlauben, am Graben und in der Kärtnerstrasse bewegen sich zehntausende von Leuten dicht gedrängt und in heiterer Vorweihnachtsstimmung. Es ist dies indessen ein Tanz am Abgrund. Die österreichische Metropole profitierte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stark vom osteuropäischen Boom. Sie wurde zur Drehscheibe von Zentral- und Osteuropa, das vom Baltikum bis zum Bosporus, von der Donau bis Odessa reicht.

Diese Region war, so übersieht man häufig, die am stärksten wachsende Schwellenregion der Welt, dynamischer noch als China oder Brasilien. Jetzt ist das leider vorbei. Osteuropa wird durch Krisen geprägt, und mehrere Länder sind in die Hände von rechtsextremen Populisten gefallen, die die gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung ihren fehlgeleiteten Ideologien unterordnen.

Das trifft Wien im Mark, und die dortigen Geschäftsleute klagen denn auch über fehlendes Wachstum, das sie auch in absehbarer Zukunft nicht sehen. Während meiner Reise kündigt UniCredit an, das Hauptquartier ihres osteuropäischen Geschäfts, das bis anhin durch die Bank Austria wahrgenommen wurde, von Wien nach Mailand zu verlegen. Ein Miesmacher, wer dies als ein Totenglöcklein für den österreichischen Finanzmarkt hört!

Indessen hat das Land ein Problem, das weit über das hinausgeht. Eine fehlgeleitete schwarze und rote Klientelpolitik führt dazu, dass die Regierung überall kleine Subventionen verteilt, von der Adlerschäden-Vergütung bis zum Familien-Pkw-Zuschuss, wie das Magazin «Profil» letzte Woche titelte.

Dabei werden wichtige staatliche Aufgaben wie Universitäten oder Infrastruktur sträflich vernachlässigt. Österreich hat in der Zwischenzeit eine Staatsquote fast wie Frankreich, ohne über dessen Ressourcen zu verfügen. Nach einer verbreiteten Meinung steuert das Land auf eine Katastrophe zu, und als Folge reckt sich hier die rechtspopulistische Gefahr wie in Frankreich und Irland, wie ich es dann umgekehrt in England oder auch in Holland in diesem Ausmass nicht gesehen habe.

«Diese journalistische Fehleinschätzung ist bezeichnend»

Zurück in der Schweiz empfängt mich die sonntägliche Schlagzeile: «Trotz Krise steigen nächstes Jahr die Löhne». Das ist natürlich falsch. Die Löhne steigen hier nicht trotz Krise, sondern weil wir keine Krise haben. Diese journalistische Fehleinschätzung ist bezeichnend für die Stimmung in unserem Lande. Wir sind eine Insel der Glücklichen in einem schwierigen Kontinent. Trotzdem reden wir uns ein, es ginge uns schlecht.

Sicherlich steht nicht alles zum Besten. Uns geht die weltmännische Coolness der Niederländer ab, es fehlen weitsichtige Politiker wie David Cameron, französische Eleganz gilt bei uns eher als ein Zeichen von Dekadenz als von Erfolg, und es mangelt uns schliesslich an der freundlichen Gelassenheit der Österreicher, die diesen half, manch düstere Zeiten zu überstehen.

Aber wir haben Vorteile in allen wesentlichen Sachen: Unsere Infrastruktur ist wohl so gut wie diejenige Hollands. Der Wohlstand ist bei uns viel ausgeglichener verteilt als in England. Anders als England sind wir immer noch eines der am besten industrialisierten Länder der Welt, worauf unser Wohlstand beruht, und wir haben schliesslich eine Staatsquote, die zwar bedauerlicherweise steigt, aber noch weit von österreichischen oder französischen Verhältnissen entfernt ist.

Trotzdem reden uns Medien und Politiker, Meinungsmacher links und rechts, ständig ein, wie befänden uns in einer Krise. Anders als bei den meisten Ländern im europäischen Spätherbst ist dies nicht wahr. Wir sind eines der wenigen Länder auf der Erde, das seine verbleibenden Probleme technokratisch, das heisst über einen unaufgeregten und dafür faktenbasierten Diskurs, lösen könnte, ohne atavistische Ideologien bemühen zu müssen, stammen diese nun aus der klassenkämpferischen Mottenkiste oder dem nationalistischen Gruselkabinett.

«Die Schweiz ist weder der EU ausgeliefert noch Teil ihrer Krise»

Die Schweiz ist zwar dem europäischen Kontinent verhaftet, aber weder der EU ausgeliefert noch Teil ihrer Krise. Wir werden weder untergehen, wenn wir die EU gelegentlich akkommodieren müssen, noch wenn wir die etwas kühle Äquidistanz behalten, die wir ihr gegenüber seit langem praktizieren. Die Probleme um die Masseneinwanderungsinitiative werden letzten Endes gelöst werden, wenn sie sich nicht sogar in Luft verflüchtigen. Auch hier ist keine Aufgeregtheit angebracht.

Der Spätherbst der Schweiz war meteorologisch durch mildes Wetter geprägt. Wir sollten dies als Vorbild für unsere Stimmung nehmen und mit Gelassenheit, Heiterkeit und Dankbarkeit für die relative Kleinheit unserer Probleme in die Festtage gleiten.


Peter Kurer studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Chicago. Danach erwarb er das Anwaltspatent des Kantons Zürich. 1980 trat er in die internationale Anwaltssozietät Baker & McKenzie ein, wo er 1985 Partner wurde. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Als Leiter des Bereiches Gesellschaftsrecht betreute er dort zahlreiche M&A Transaktionen und IPOs. Zugleich war er Verwaltungsratsmitglied bei mehreren privaten und kotierten Gesellschaften.

Im Jahre 2001 wechselte Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise vorübergehend das Präsidium der Bank.

Heute ist Kurer Partner der Private Equity Firma BLR, Verwaltungsratspräsident des Verlages Kein & Aber sowie Mitglied mehrerer Verwaltungs- und Beiräte. Zugleich berät er Unternehmen in Fragen der Corporate Governance, Unternehmensakquisitionen, Kapitalmarkttransaktionen und Rechtsrisiken.

Peter Kurers neustes Buch «Legal and Compliance Risk: a Strategic Response to a Rising Threat for Global Business» erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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