«Wenn wir Finanzströme und -transaktionen nach gesundem Menschenverstand durchführen, haben wir bessere Chancen, unser Private-Banking-Geschäft sauber zu halten», schreibt Arthur Bolliger in seinem exklusiven Essay für finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first läuft in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch bei finews.ch.


In Trogen, in meinem Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden, gibt es mitten im Dorf eine Kreuzung, bei der vier Hauptstrassen aufeinanderstossen. Keine Verkehrsampel reguliert den beträchtlichen Verkehr. Als sich vor Jahren ein wohlmeinender Bürger an den Gemeindepräsidenten wandte mit der Bitte, man möge diese gefährliche Kreuzung endlich entschärfen, meinte der weise Gemeindevater: «Nein, wir lassen die Nicht-Regelung des Verkehrs auf dieser Kreuzung. Denn angesichts der damit verbundenen akuten Gefahr für die Verkehrsteilnehmer passen alle so stark auf und nehmen alle dermassen Rücksicht, dass nie ein Unfall passiert.»

Trogen ist nicht der einzige Ort, in dem die Nicht-Regulierung des Strassenverkehrs als nutzenstiftend erkannt wird.

Die Stadt Drachten in der niederländischen Provinz Friesland hat etwa 60’000 Einwohner. Drachten nimmt am EU-Projekt «Shared Space» teil. Als Folge daraus sind in der Innenstadt alle Ampeln sowie Verkehrsschilder entfernt worden.

«Heute gelten diese Ideen leider als Ausdruck neoliberaler Verblendung»

Kein Bordstein trennt dort das Trottoir von der Strasse, beide befinden sich auf gleicher Höhe. Die Abgrenzung zwischen Plätzen, auf denen sich Passanten tummeln, und der Strasse werden aufgehoben. Einzige Verkehrsregeln sind «Rechts vor Links» und ein generelles Tempolimit von 30 km/h. Seit Beginn des Projektes sind die Unfallzahlen so drastisch zurückgegangen, dass es heute kaum noch Unfälle gibt.

Die gefährliche Kreuzung in Trogen und das Drachten-Modell knüpfen an die grossartige liberale Idee der Bürgerfreiheit und -verantwortung an. Schon vor über zweihundert Jahren hat Adam Smith von einer «unsichtbaren Hand» gesprochen, die den Einzelegoismen eine wohltätige Richtung gibt.

Nicht indem man versucht, den einzelnen ihren Eigennutz und Eigensinn auszutreiben, kann man moralische Prinzipien in der Gesellschaft verankern. Je mehr man den einzelnen erlaubt, sich aus eigenem Antrieb mit anderen auf Spielregeln des gegenseitigen Umgangs zu einigen, umso sicherer ist es, dass sie sich auch daran halten.

Heute gelten diese Ideen leider als naiv und utopisch und als Ausdruck «neoliberaler» Verblendung.

«Man verlässt sich darauf, dass der Staat schon alles regeln werde»

Je mehr Regulierungen es im Alltagsleben gibt, desto mehr schrumpfen Ethik und Verantwortungsbewusstsein der Bürger. Man verlässt sich darauf, dass der Staat schon alles regeln werde.

Der am Drachten-Modell mitbeteiligte Verkehrswissenschaftler Hans Monderman, Verkehrsplaner am Keuning Institut für soziale Studien in Groningen prägte den provokativen Satz: «Verkehr muss gefährlich gemacht werden, um sicher zu sein.»

Was zunächst paradox klingt, leuchtet bei Nachdenken ein. Wer sich im Recht weiss, weil die Ampel Grün zeigt, gibt sofort Gas – und merkt dann vielleicht zu spät, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht an die Regel gehalten hat. «Die meisten Verkehrsunfälle geschehen nicht durch Fehler, sondern dadurch, dass man nicht richtig auf Fehler reagiert, die andere machen», sagt Monderman.

Was kann Fidleg von gefährlichen Strassenkreuzungen im Appenzellerland und kaum reguliertem Verkehr in den Niederlanden lernen? – Die Einsicht, dass übermässige Regulierung und Kontrollen den Blick fürs Wesentliche trüben.

Heute gilt in Banken: «Wenn zehn Polizisten nicht genügen, erhöhen wir ihre Zahl auf zwanzig»

In einem Interview mit der «Sonntagszeitung» vom 10. April 2016 erklärte Bundesanwalt Michael Lauber auf die Frage, ob es zu viele Vorschriften gebe: «Die Vorschriften haben durchaus gute Seiten. Aber es besteht die Gefahr, dass das eigentliche Thema, «Know your customer» (Kenne Deinen Kunden), an das Papier delegiert wird. Vor lauter Pflichten und Formularen vergessen beispielsweise die Anwälte, und Finanzintermediäre plötzlich das Grundlegende, nämlich zu fragen, ob es überhaupt ökonomisch plausibel ist, was in einem konkreten Fall abläuft.»

Mit dem Hinweis auf das ökonomisch Plausible hat unser Bundesanwalt den Nagel auf den Kopf getroffen. Indem wir Finanzströme und -transaktionen nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes durchführen, haben wir bessere Chancen, unser Private-Banking-Geschäft sauber zu halten.

Wenn ein Kunde nicht mehr 30 Seiten Formulare bei der Kontoeröffnung unterschreiben muss, und der Kundenberater nicht mehr durch unsinniges Abarbeiten von «Tick-the-Box»-Fragen zum Bürokraten verkommt, schaffen wir die Voraussetzung, dem Kunden Nutzen zu stiften und den Finanzplatz sauber zu halten.

Heute gilt in allen Banken: «Wenn zehn Polizisten nicht genügen, erhöhen wir ihre Zahl auf zwanzig. Dann können wir der Finma gegenüber beweisen, dass wir den Kampf gegen illegale und unerwünschte Geschäfte ernst nehmen. Und wir sind fein raus, wenn sich ein Unglück ereignet.»

«Angesichts aller Skandale muten Treu und Glauben in der Finanzwirtschaft utopisch an»

Mit anderen Worten: Wir haben vergessen, dass unsere Bundesverfassung ganz vorne unter Artikel 5.3 sagt: «Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.» Im Jahr 2012 gab die Schweizer Post eine Sonderbriefmarke zu Ehren des Grundsatzes von Treu und Glauben heraus. Bundesrätin Simonetta Sommaruga erklärte damals, dieses Prinzip verlange die wechselseitige Rücksichtnahme und schütze das gegenseitige Vertrauen. – Wie wahr!

Zugegeben: Heutzutage mutet das Prinzip von Treu und Glauben in der Finanzwirtschaft angesichts alter und neuer Skandale utopisch an. Die Finma tut unter diesen Umständen das, wozu sie durch Gesetz (und das Ausland) verpflichtet ist, sie reguliert. Und die Finanzwirtschaft zieht wohl oder übel mit, weil Widerstand gegen den Zeitgeist nicht angezeigt scheint.

«Gestatten wir mehr unbewachte Strassenkreuzungen»

Grund genug für die bürgerliche Mehrheit, sich des Themas anzunehmen! Und zwar auf eine Art und Weise, welche nicht den Konsumenten zwingt, Produkte zu kaufen, die er nicht versteht, und die nicht die komparativen Vorteile des Finanzplatzes Schweiz zerstören. Auf eine Art und Weise auch, bei der sich nicht der Staat das Wissen anmasst, wie der Bürger am klügsten mit seinem Geld umgeht.

Gestatten wir mehr unbewachte Strassenkreuzungen! Macht das Leben gefährlicher, damit es sicherer wird!

Nicht-Regulierung ist ein Risiko, keine Frage. – Aber Überregulierung ist das grössere. Und gefährdet die Freiheit des Individuums und unserer Gesellschaft. – Also eine hoch politische, brisante Frage, zu der sich das Parlament äussern muss! Wie sagte doch Montesquieu: «Quand il n’est pas nécessaire de faire une loi, il est nécessaire de ne pas en faire.»


Der 1948 geborene Arthur Bolliger verbrachte als Bankier fast ein Vierteljahrhundert im Dienste der Zürcher Maerki-Baumann-Gruppe: von 1989 bis 2008 als CEO der Maerki Baumann Privatbank und von 2009 bis 2011 als Verwaltungsratspräsident der ebenfalls zur Gruppe gehörenden InCore Bank.

Heute ist er aktiv als Verwaltungsrat verschiedener Unternehmen, darunter die Banque Cramer in Genf. Im Zuge seines ehrenamtlichen Engagements setzt sich Bolliger für verschiedene Institutionen ein, etwa als Fachbeirat der Zürcher Hochschule der Künste, als Mitglied des Stiftungsratsausschusses von Swisscontact und als Präsident des Vereins Cheira.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer (zweimal), Oliver Berger, Rolf Banz, Dieter Ruloff, Samuel Gerber, Werner Vogt, Claude Baumann, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Peter Hody, Robert Holzach, Thorsten Polleit, Craig Murray und David Zollinger.

 

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.62%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    19.23%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    27.49%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.44%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.21%
pixel