Der Brexit ist ein klares Misstrauensvotum an das bürgerliche und wirtschaftliche Establishment Europas, schreibt finews.ch-Chefredaktor Claude Baumann.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first läuft in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch bei finews.ch.


Die Zeit zwischen 1960 und dem Ende des 20. Jahrhunderts präsentierte sich in der Schweiz als eine lange Phase grosser Stabilität. Natürlich gab es immer wieder Ereignisse, die das politische Gleichgewicht erschütterten, wie der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in Prag, der Vietnamkrieg, die Invasion der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 oder die atomare Aufrüstung in den 1980er-Jahren. Doch eigentlich war die Kuba-Krise von 1962 die letzte politische Eskalation, die der Gefahr eines Weltkriegs am nächsten kam.

Dass die Bedrohung im westlichen Europa über vier Jahrzehnte hinweg so gering blieb, hat aus meiner Sicht viel mit unserem Wirtschaftssystem zu tun. Denn dieses hielt uns stets vor Augen, gegenüber dem Osten im Vorteil zu sein.

Allein die langen Schlangen vor den Lebensmittel-Geschäften in Ost-Berlin, Prag oder Moskau erinnerten uns regelmässig daran, auf der «besseren» Seite zu leben. Und dieser Umstand verschaffte unserer Wirtschaft wiederum einen einzigartigen Goodwill. Ich würde sogar behaupten, es existierte so etwas wie ein stillschweigender Vertrauens-Pakt mit den Protagonisten ebendieser Wirtschaft.

«Diese Hybris fiel spätestens mit dem Ausbruch der Subprime-Krise 2007 in sich zusammen»

Erst Ausgangs des 20. Jahrhunderts – paradoxerweise mit dem Untergang des Kommunismus, der eigentlich unfreiwillig über die ganze Zeit als Korrektiv des westlichen Systems gedient hatte – breitete sich ein zuvor nie dagewesenes Laisser-faire, eine gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit bei vielen Wirtschaftsführern aus.

Diese Hybris fiel spätestens mit dem Ausbruch der Subprime-Krise im Sommer 2007 und dem späteren Lehman-Kollaps in sich zusammen. Aus der Hypothekenkrise in den USA erwuchs eine Banken-, später eine Währungs- und Finanzkrise, die am Ende das gesamte globale Wirtschaftssystem erfasste und sich heute in einer Schuldenkrise manifestiert, ohne dass jemand noch wüsste, wie wir uns daraus befreien können.

Angesichts dieses nunmehr bald zehnjährigen Krisenmodus’ überrascht es nicht, dass Glaubwürdigkeit und Integrität des Wirtschaftsestablishments weggefegt worden sind, was sich am deutlichsten in der Bankbranche zeigt. Die zuvor gefeierten Finanz-CEOs sind am tiefsten gesunken, gleichzeitig fallen viele Beschäftigte in diesem Sektor durch ein unethisches, ja unfassbar betrügerisches Verhalten den Tag. Kein Wunder, dass die Bankbranche in weiten Kreisen der Bevölkerung einen so unsäglich schlechten Ruf geniesst.

«Als Reaktion darauf setzte der Siegeszug populistischer Gruppierungen ein»

Das verwerfliche Gebaren vieler Manager führte letztlich auch dazu, dass die bürgerlichen Parteien im Westen in eine tiefe Sinnkrise schlitterten, wie sich dies am Beispiel der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) in der Schweiz sehr gut zeigte. Denn diese Parteien galten als Verfechter des westlichen Wirtschaftssystems, das sich in den vergangenen zehn Jahr selber diskreditierte.

Als Reaktion darauf setzte der Siegeszug populistischer Gruppierungen ein, sei das nun der Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland bis hin zu Donald Trump in den USA. Auch der Brexit ist eine Reaktion auf diesen Verlust an Vertrauen ins Establishment.

Diese politische Schubumkehr ist sozusagen der zornige und polarisierende Gegenentwurf zur bürgerlichen Polit-Blaupause, die nach dem Zweiten Weltkriegs entstanden war und im Sog der Finanzkrise 2007 implodierte.

«Stattdessen dominieren fragwürdige Lichtgestalten»

Seither schaukelt sich das westliche Wirtschafts- und Polit-Establishment hilflos und desorientiert von einer Krise in die andere. So deutet wenig darauf hin, dass sich in den nächsten Jahren vernünftig agierende Parteien und Politiker an der Urne durchsetzen könnten.

Stattdessen dominieren fragwürdige Lichtgestalten, die jenen populistischen Traktanden huldigen, die gerade opportun sind, um eine möglichst breite Zustimmung zu erlangen – und landauf landab in den TV-Talkshows zu gastieren.

Die verworrene politische Konstellation, wie sie in immer mehr Ländern Europas Überhand nimmt, stellt letztlich eine enorme Bedrohung für die Wirtschaft und das freie Unternehmertum dar. Denn die aufrührerischen Voten entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als extrem einschränkende, protektionistische Planspiele, die herzlich wenig mit unserem freien und demokratischen Verständnis und Wirken gemein haben.

«Extreme Meinungen erzielen auf kurze Sicht tatsächlich eine viel grössere Breitenwirkung»

Insofern sollten Wirtschaftsführer durchaus ein Interesse daran haben, dass die Politik wieder auf den Pfad der Vernunft zurückfindet. Dafür können sich Manager aber nur stark machen, wenn sie selber mit gutem Beispiel vorangehen. Davon scheinen sie aber noch weit entfernt zu sein, vor allem, wenn man sich deren anhaltende (Lohn-)Exzesse und peinlichen Legitimierungsversuche vergegenwärtigt.

Wenn ein Firmen-Chef nach einer milliardenhohen Busse an «sein» Unternehmens erklärt, einen «guten Job» gemacht zu haben, so ist das nichts anderes als eine Frechheit, genauso wie wenn Top-Manager Millionenboni kassieren, obschon «ihr» Unternehmen Verluste einfährt.

Mit ihrer Einstellung ebnen viele Manager weiteren populistischen Polterern umso mehr den Weg an die Macht. Und vor diesem Hintergrund ist es nicht verwegen, zum Schluss zu kommen, dass die gesellschaftspolitische Gangart in den nächsten Jahren noch eine Spur härter werden dürfte.

Extreme Meinungen und Argumente erzielen auf kurze Sicht tatsächlich eine viel grössere Breitenwirkung. Doch sie waren noch nie der Nährboden für eine verantwortungsvolle Neubesinnung, die so dringend nötig wäre.


Claude Baumann ist Mitgründer und Chefredaktor von finews.ch und finews.asia in Singapur. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Finanzbranche, zuletzt erschien «Robert Holzach – Ein Bankier und seine Zeit» im Verlag Neue Zürcher Zeitung.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer (zweimal), Oliver Berger, Rolf Banz, Dieter Ruloff, Samuel Gerber, Werner Vogt, Claude Baumann, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Peter Hody, Robert Holzach, Thorsten Polleit, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes und Thomas Fedier.

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.66%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    19.24%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    27.46%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.43%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.21%
pixel