Putschversuche sind Symptom der Instabilität staatlicher Institutionen. In der Türkei müsse nun mit Wendungen gerechnet werden, schreibt Dieter Ruloff exklusiv auf finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first läuft in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch bei finews.ch.


Der Staatsstreich, Putsch, coup d’État oder kurz Coup ist eine keineswegs seltene Form des Regierungswechsels in den fragilen und teilweise auch jungen Staaten Afrikas, Lateinamerikas und Süd- und Ostasiens und symptomatisch für Länder mit ungefestigten politischen Institutionen.

Beim Staatsstreich übernehmen üblicherweise die Streitkräfte oder ein Teil von ihnen mit Waffengewalt die Macht von einer meist zivilen Regierung. In den schwachen Staaten Afrikas, in denen die Zentralregierung oft nur einen Teil des eigenen Staatsgebietes kontrolliert, hat es auch verschiedentlich den Versuch der gewaltsamen Machtübernahme durch Warlords und deren Milizen gegeben.

Im laufenden Jahrzehnt hat die Welt bereits 28 Staatsstreiche oder Versuche dazu erlebt, und zwar 17 in Afrika südlich der Sahara, sechs im Nahen Osten, drei in Asian und einen in Lateinamerika (Liste am Textende).

«Der Putschversuch hat die Demokratie in der Türkei in zweifacher Weise geschwächt»

Hinzu kommt nun der gerade gescheiterte Putsch in der Türkei. Dieser schockiert gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens gehört die Türkei als Kandidat für eine Aufnahme in die EU zum europäischen Staatensystem, das als eine der politisch stabilsten Regionen der Welt gilt; den Versuch eines Staatstreichs hätte man hier wohl am wenigsten erwartet.

Zweitens galten die staatlichen Institutionen der Türkei als durchaus belastbar, die Demokratie trotz der Machtambitionen des gegenwärtigen Präsidenten als solide. Die Zeit der Militärputsche in der Türkei (1960 und 1980) liegt weit zurück, die letzte Einmischung des Militärs in die Politik von 1997, die zur Absetzung des damaligen Präsidenten Erbakan führte, kann allenfalls als Androhung der Machtübernahme gelten, und zwar mit dem Ziel einer Warnung angesichts des wachsenden Einflusses islamistischer Kreise.

Drittens hat der Putschversuch den Präsidenten des Landes und seine konservativ-islamischen Kräfte in die Lage versetzt, durch Säuberungen im Namen der Demokratie ihre politischen Gegnern erheblich zu schwächen und den Umbau des Landes in Richtung eines autoritär-präsidialen Systems voranzutreiben; der Putschversuch hat somit die Demokratie in der Türkei gleich in zweifacher Weise geschwächt.

«Dies wird sich negativ auf jede Art von Geschäft mit der Türkei auswirken»

Dies hat natürlich Gerüchten Vorschub geleistet, der Putsch sei vom Präsidenten selbst quasi bestellt worden. Beweise für diese These gibt es aber nicht. Ob der Präsident mit einer kurzfristig anstehenden Säuberungswelle in Militär, staatlicher Verwaltung und Justiz den insgesamt eher dilettantischen Putschversuch zumindest provoziert hat, wird wohl ebenfalls so rasch kaum nachzuweisen sein.

Staatsstreiche und Putschversuche sind in jedem Fall Symptome der Instabilität staatlicher Institutionen, und die Türkei gehört jetzt sehr sichtbar zur Klasse jener Staaten, in denen mit derartigen Wendungen der Politik gerechnet werden muss. Dies schlägt sich zwangsläufig in der Länderrisiko-Bewertung für die Türkei nieder und wird sich negativ auf jede Art von Geschäft mit der Türkei auswirken.

«Auch wenn es derzeit unrealistisch erscheint, die Türkei bleibt ein wichtiger Handelspartner der EU»

Der Welt und vor allem den Europäern kann diese Wendung der Dinge nicht egal sein. Die Türkei ist mit einer Bevölkerung von knapp 80 Millionen ein grosser Staat und eine bislang rasch wachsende, bedeutsame wirtschaftliche Schwellenmacht (Emerging Market). Auch wenn eine EU-Mitgliedschaft der Türkei angesichts der innenpolitischen Entwicklungen des Landes inzwischen auf weithin absehbare Zeit unrealistisch scheint, bleibt die Türkei ein wichtiger Handelspartner der EU, dessen vor allem wirtschaftliches Gedeihen für die Europäer bedeutsam ist.

Als Nato-Mitglied und wegen seiner Lage zwischen Europa und dem nahöstlichen Krisenbogen bleibt die Türkei zudem ein bedeutsamer, aber angesichts der Entwicklungen seiner Innenpolitik auch ein zunehmend schwieriger Partner Europas und des Westens insgesamt.

«Putsch» ist der einzige Begriff des Zürichdeutschen, der seinen Weg in die internationale Sprache der Politik gefunden hat»

Die Probe aufs Exempel wird für Europa früher kommen, als ihm lieb sein kann, und zwar in der Migrationspolitik. Ob der fragile Handel der EU mit der Türkei über die Rücknahme syrischer Flüchtlinge überhaupt Bestand haben kann, wird sich erst noch zeigen müssen.

«Putsch» (ursprünglich «Knall» oder «Stoss») ist übrigens der einzige Begriff des Zürichdeutschen, der seinen Weg in die internationale Sprache der Politik gefunden hat, und zwar durch die Berichterstattung deutscher Medien über den Zürcher Staatsstreich vom 6. September 1839, als konservative, «gottesfürchtige» bewaffnete Kräfte aus dem Umland die liberale Regierung von Stadt und Kanton zu stürzen versuchten.


Liste der 28 Staatsstreiche oder Versuche:
Benin 2013
Burkina Faso 2015
Burundi 2015
Demokratische Republik Kongo 2011
Elfenbeinküste 2012
Gambia 2014
Guinea-Bissau 2010, 2011, 2012
Komoren 2013 
Lesotho 2014
Madagaskar 2010
Malawi 2012
Mali 2012
Niger 2010, 2011
Sudan 2012
Ägypten 2011, 2013
Tschad 2013
Jemen 2014/15
Libyen zweimal 2013
Bangladesh 2011
Papua Neuguinea 2011/12
Thailand 2014
Ecuador 2010


Dieter Ruloff ist Professor emeritus für Internationale Beziehungen der Universität Zürich. Er erwarb 1971 an der Universität Konstanz den magister artium (M.A.) in Geschichte und Politikwissenschaft, 1974 promovierte er an der Universität Zürich, 1980 erfolgte seine Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Zum Wintersemester 1987 wurde er an der Universität Zürich zum Titularprofessor ernannt.

Von 1990 bis 1993 war er Direktionsmitglied der Schweizer Grossbank UBS und dort mit der Leitung der Stabsabteilung für Länderrisiken betraut. 1993 wechselte er zurück an die Universität Zürich als Ordinarius für Internationale Beziehungen. Gleichzeitig übernahm er als Geschäftsführer die Leitung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (bis 2008). Er ist Gründungsmitglied des Center for Comparative and International Studies der ETH und der Universität Zürich und war bis 2012 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer, Oliver Berger, Rolf Banz, Dieter Ruloff, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Peter Hody, Robert Holzach, Thorsten Polleit, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Thomas Fedier, Claude Baumann, Beat Wittmann, Richard Egger, Maurice Pedergnana und Didier Saint-Georges.

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