Chinas Aufbruch ist das wohl grösste sozioökonomische Experiment der Weltgeschichte. finews.first-Autor Peter Hody ist sich nicht sicher, wie es ausgeht. 


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first läuft in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch bei finews.ch.


Die Ankunft in Chengdu, der Megastadt mit über 15 Millionen Einwohnern im Westen Chinas in der Provinz Sichuan, verursacht keine Spur von Kulturschock. Der Flughafen, er gehört zu den 30 grössten der Welt, vermittelt bloss Modernität, aber keinerlei Exotik des Fernen Ostens.

Die Autobahn ins Stadtzentrum ist tadellos und genauso wenig verstopft wie die breiten Boulevards in der Stadtmitte, auf denen die Elektromopeds surren. Die Strassen sind je nach Stadtteil gesäumt von gesichtslosen Büro- und Wohntürmen oder von Shopping- und Gewerbehäusern.

Insofern ist Chengdu ein Spiegel des modernen Chinas, das den Anschluss an den Westen geschafft, eine konsumfreudige Mittelschicht und schlagkräftige sowie international wettbewerbsfähige Industrien entwickelt hat und auf dem nächsten Sprung ist, die USA als führende Wirtschaftsmacht abzulösen.

«Für den Schreibenden war es weitgehend eine Reise ins Unbekannte»

Chengdu kommt diesem Plan keine unwichtige Rolle zu: Die Stadt wächst rasend schnell. Als neues Hightech- und Bildungszentrum soll sie eine Art Transmissionsriemen spielen für die wirtschaftliche Entwicklung der dem Osten hinterher hinkenden Westprovinzen Chinas.

Chengdu Hi Tech

Aus diesem Grund hat die stars Foundation, eine unabhängige Stiftung mit Sitz in Stein am Rhein im Kanton Schaffhausen, Chengdu als Austragungsort für ihr diesjähriges Symposium ausgewählt, an dem finews.ch teilgenommen hat.

Während fünf Tagen besuchten die Teilnehmer, vornehmlich junge Manager und Managerinnen von Schweizer, europäischen und chinesischen Unternehmen Entwicklungszentren und Innovationsparks, etablierte Unternehmen und junge Startups.

Parallel dazu folgten sie den Reden und Diskussionen namhafter Gäste wie Joerg Wuttke, dem Präsidenten der European Union Chamber of Commerce in China, Huang Jing von der Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur, Uli Sigg, Kunstsammler und ehemaliger Schweizer Botschafter in China oder Asienspezialist und Publizist Urs Schöttli.

Für den Schreibenden war es weitgehend eine Reise ins Unbekannte – war er zuvor doch noch nie im «Reich der Mitte» gewesen. Doch dieses Unbekannte war gleichsam das grosse Thema des Symposium.

«Scheitert das von der Kommunistische Partei gelenkte Experiment?»

Die Reden, Diskussionen und Gespräche drehten sich alle um die eine Frage, welche für die Geschicke des Landes wie für die gesamte Welt so entscheidend ist: Gelingt es dem 1,4 Milliarden bevölkerungsstarken Riesenreich, den seit bald vier Jahrzehnten dauernden Aufbruch fortzusetzen und sich innerlich zu festigen, oder scheitert dieses von einem inneren Zirkel der Kommunistischen Partei (KP) gelenkte Experiment an den äusserst vielfältigen und immensen Herausforderungen?

Chengdu

Am Symposium waren kumuliert wohl mehrere hundert Jahre Arbeits- und Geschäftspraxis in China anwesend, und jeder schien sich in Anbetracht seiner persönlichen Erfahrungen das Sprichwort des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain zu eigen gemacht zu haben: « It ain't what you don't know that gets you into trouble. It's what you know for sure that just ain't so.»

Oder zu Deutsch: «Nicht, was man weiss, kann Schwierigkeiten bedeuten. Sondern das, was man sicher glaubt zu wissen, aber nicht so ist.»

Die notorischen Schwierigkeiten, in China verlässliche Informationen zu erhalten, brachte auch ein Manager eines deutschen Spezialchemieunternehmens auf den Punkt, als er im Gespräch sagte: «Wenn die Chinesen ihren Fünfjahres-Plan auspacken, schalte ich ab.»

Oder anders formuliert: Im Reich der Mitte ist es schlicht unmöglich, Propaganda und Verschleierungen von Wahrheit und Fakten zu unterscheiden.

Ein weiterer Redner, der seit den 1980-er Jahren in China arbeitet und in Peking über sehr gute Kontakte verfügt, meinte, dieses Informationsvakuum herrsche auch in Bezug auf die Partei-Elite und Regierungskreise.

«Intrigen um Macht wie in der TV-Historienserie 'Die Borgias'»

Er verglich die Vorgänge im inneren Zirkel der Machthaber mit der europäischen Fernseh-Historienserie «Die Borgias», welche den Weg der berühmt-berüchtigen Familie Borgia über Intrigen und Ränkespiele zu Macht und Reichtum bis in den Papststuhl und darüber hinaus nachzeichnet.

Die Besuche bei chinesischen Firmen wie auch jungen Startups hinterliessen hingegen einen gänzlich anderen Eindruck. Hier traf der Besucher auf junge, teils auch in zweiter Generation tätige, selbstbewusste Unternehmer, die ihre Geschäftsideen auf hohem technologischen Standard und mit grossem Enthusiasmus weiterentwickeln.

Xu Hao beispielsweise hat mit Camera360 eine App für Fotobearbeitung entwickelt und innert sieben Jahren eine Gemeinde von 600 Millionen Nutzern aufgebaut, die täglich zwei Milliarden Fotos herauflädt.

Oder die Familie Ming, die mit Sunfor einen Spezialisten für energiesparende LED-Beleuchtung aufgebaut hat, der inzwischen weltweit präsent ist. Oder der junge Startup-Unternehmer, der in Chengdu einen mobilen Food-Service aufbaut und bereits nach drei Monaten die Gewinnschwelle erreicht hat.

«Wozu braucht ein Chinese noch Visitenkarten, wenn er die App 'WeChat' hat?»

Die Frage nach einer Visitenkarte quittierte er mit einer abweisenden Handbewegung und der Feststellung: «Wozu braucht ein Chinese noch Visitenkarten, wenn er auf seiner Smartphone-App ‹WeChat› sämtliche Kontakte sammeln, mit ihnen kommunizieren und auch einfache Geschäftsaktivitäten abwickeln kann?»

Solche Begegnungen vermochten den Besucher tatsächlich im Eindruck bestärken, dass Chinas Wirtschaft sich von einem exportlastigen Billigproduktions-Land zu einer international wettbewerbsfähigen und technologisch führenden Exportmacht entwickeln kann.

Allein: Der anhaltende, von der Schwerindustrie mitverursachte Dunst über der Stadt, die zahllosen, scheinbar leeren Bürotürme, Gerüchte um ein wegen faulen Krediten kollabierendes Bankensystem, intransparente und unproduktive Staatsunternehmen. Korruption, künstlich am Leben erhaltene «Zombie»-Industrien, nicht bestätigte Berichte über soziale Unruhen – all diese Erscheinungen, Probleme und Herausforderungen verdeutlichen auch: China lebt gefährlich.

China Stahl

Wie mannigfach die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gefahren und extremen Aufgaben in China sind, illustriert der «Report on the Work of the Government», den Premier Li Keqiang im vergangenen März anlässlich der «Two Sessions» – der Konvente des National People Congress (NPC) und der Chinese People's Political Consultative Conference (CPPCC) – vorstellte.

«Der Parteispitze ist klar, dass das bisherige Wachstum nicht beibehalten werden kann»

Darin finden sich ganze Sträusse von Massnahmen, die von Geld- und Steuerpolitik über Administrationsabbau, Restrukturierung der staatlichen «Zombie»- Unternehmen, Förderung von Unternehmertum und Privatsektor, Entwicklung von Hightech- und Dienstleistungsunternehmen, Investitionen in Infrastruktur und Transport, Städteentwicklung, Modernisierung der Landwirtschaft, Kampf gegen Umweltverschmutzung und Förderung nachhaltiger Technologien und auch Regierungsreformen berichten.

Was dies alles eigentlich aussagt ist: Der Parteispitze und Regierung ist es klar, dass sie das bisherige Wirtschaftswachstum nicht beibehalten können und sowohl wirtschaftliche, strukturelle als auch politische Reformen notwendig sind. Gleichzeitig soll alles unternommen werden, um eine harte Landung der Wirtschaft zu verhindern.

Der im November 2015 präsentierte 13. Fünfjahres-Plan offenbart zudem, in welche Richtung sich Wirtschaft und Gesellschaft bewegen sollten: Während die obligaten Wachstumsziele und die weitere Modernisierung der Wirtschaft einen Teil des Plans stellen, liegt viel Betonung auf Zielen wie Armutsbekämpfung, Aufbau von Sozialdienstleistungen, Bildungsmöglichkeiten, Modernisierung von Städten, Infrastruktur und Einrichtungen, Bekämpfung von Umwelt- und Wasserverschmutzung.

Den propagandistischen Hintergrund solcher Verlautbarungen darf man nicht vergessen. Doch ist es den Parteioberen um Premier Li Keqiang und Präsident Xi Jinpin bitterer Ernst: Nichts mehr fürchtet die chinesische Regierung als soziale Unruhen oder das wirtschaftliche Stagnieren einer hart arbeitenden Mittelschicht.

«Die 100-jährige Herrschaft der Partei ist das Ziel»

Wenn man allerdings in Rechnung stellt, dass der dringend notwendige Abbau industrieller Überkapazitäten im Eisenerz- und Kohle-Bergbau wohl Millionen von Arbeitslosen schafft, wird einem die hohe Gefahr gesellschaftlicher Spannungen und möglicher Unruhen bewusst.

Xi Jinpin hat klar gemacht: Nicht das 100-jährige Jubiläum der 1921 gegründeten KP Chinas ist das Ziel, sondern die 100-jährige Herrschaft der Partei. Dies wäre im Jahr 2049 der Fall und ein Weltrekord.

Der Staatspräsident hat in den vier Jahren seiner Regentschaft seine Autorität zementiert und so viel Macht, wie kaum jemand zuvor. Anstatt Pluralismus und mehr Demokratie zuzulassen, führen er und seine Gefolgsleute das Prinzip des autoritären Staatskapitalismus streng weiter.

Bislang ist dieses laut Publizist Urs Schöttli wohl grösste sozioökonomische Experiment der Weltgeschichte aufgegangen. Dass Xi Jinpin wie die KP sich davor scheuen, die Macht aufzuteilen, liegt nicht nur an der berechtigten Sorge des Kontrollverlustes. Es ist die Angst vor dem Zerfall, zu dessen Auswirkungen die 1989 implodierende Sowjetunion und KPdSU Anschauungsunterricht geliefert hatten.

Die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen eines solchen Zerfalls in China wären für die globale Wirtschaft kaum vorstellbar, geschweige denn steuerbar. Die teilweise panischen Reaktionen an den Finanzmärkten auf Nachrichten einer wirtschaftlichen Verlangsamung Chinas sind nur ein Vorgeschmack.

Chinas anhaltendem Aufbruch und dem Erreichen des Planzieles einer «moderat wohlhabenden Gesellschaft» ist die restliche Welt auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Das Experiment darf nicht scheitern.


Peter Hody ist stellvertretender Chefredaktor von finews.ch. Er übte in den vergangenen Jahren diverse Führungspositionen bei Wirtschafts- und Finanzmedien aus, unter anderem bei «Cash» und bei «Stocks». Zuvor schrieb er aus Zürich für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) und berichtete als Korrespondent aus dem Bundeshaus für RTL/ProSieben. Er ist Historiker und absolvierte an der Hamburg Media School einen MBA in Medien-Management.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Peter Hody, Robert Holzach, Thorsten Polleit, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Thomas Fedier, Claude Baumann, Beat Wittmann, Richard Egger, Maurice Pedergnana, Didier Saint-Georges, Dieter Ruloff und Marco Bargel.

Welche Schweizer Privatbank bietet an der Börse nun das grösste Potenzial?
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  • Julius Bär, weil der Kurs seit dem Signa-Debakel genügend gesunken ist.
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  • Vontobel, weil das Unternehmen 2024 die Wende im Asset Management schaffen wird.
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  • UBS, weil die Grossbank auch als Privatbank enormes Potenzial bietet.
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