Vietnams grösster Unterschied zum Westen ist der unbändige Wille der jungen Bevölkerung, die Armut hinter sich zu lassen, schreibt Marco Martinelli in einem exklusiven Essay für finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Wer schon einmal versucht hat, in gut schweizerischer Manier «Luege, lose, laufe» die Strassenseite in Ho-Chi-Minh-Stadt zu wechseln, wird es nicht geschafft haben. Zu gross ist die Wucht der anrollenden Mopeds und Fahrräder, um einen Schritt nach vorne auf die Strasse zu wagen. Dies war vor zehn Jahren so und ist heute nicht anders, ausser dass man heute fast keine Fahrräder mehr sieht, dafür vermehrt teure Luxuslimousinen.

Was aber damals wie heute gilt, ist das Prinzip des langsamen Schrittes. Loslaufen, ohne Hektik, ohne ausweichen zu wollen und plötzlich spürt man, wie der Verkehr, dem Wasser in einem Fluss gleichend, um einem herumfliesst. Wer diese Technik beherrscht, ist schon ein halber Vietnamese.

Sah man vor zehn Jahren noch kaum einen Off-Roader auf den Motorrad getränkten Strassen von Ho-Chi-Minh-Stadt zeigt sich heute ein ganz anderes Bild. Monatlich drängen gegen 100‘000 neue Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt. Jung, gut ausgebildet und erfolgshungrig. Zielstrebig den idealen der westlichen Konsumgesellschaft folgend, leisten sie sich vermehrt Luxusartikel und zeigen dies auch.

«Die Regierung hat erkannt, dass sich das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt»

Es wird konsumiert, was das Zeug hält. Anzeichen für eine wachsende Mittel- und Oberschicht sind nicht zu übersehen. Zwar hält die Zentralregierung in Hanoi die Zügel nach wie vor fest in der Hand und ohne deren Zustimmung läuft gar nichts. Aber die Regierung hat erkannt, dass sich das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt. Der Umbau in eine Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft ist in vollem Gange.

Internationale Firmen verschieben ihre Produktionsstätten vermehrt nach Vietnam. Das stabile politische Umfeld, fehlende religiöse Konflikte und attraktive Rahmenbedingungen bilden das Fundament dieses rasanten Wachstums.

Nun zündet die Regierung die nächste Stufe des Wachstums. In den kommenden Monaten und Jahren werden die seit langem erwarteten Privatisierungen der wichtigsten staatlichen Betriebe in Angriff genommen. Dies wiederum bringt der Zentralregierung die nötige finanzielle Freiheit, um die nach wie vor in weiten Teilen Vietnams marode Infrastruktur zu erneuern. Davon profitieren hauptsächlich nationale Anbieter; Zementfabriken, Stahlkonzerne und ganz allgemein Bauzulieferer.

«Luxusvillen für die anspruchsvollste Kundschaft sind wie Pilze aus dem Boden geschossen»

Was für die Autos in Ho-Chi-Minh-Stadt gilt, gilt erst recht für die Luxushotels entlang des fast endlos, 3‘200 km langen Küstenstreifens. Die Tourismusbranche boomt, waren es 2007 noch 3 Millionen Touristen, so zählte man 2016 bereits über 10 Millionen. Der Sektor bildet das Rückgrat der wirtschaftlichen Tätigkeit in den ehemals ländlichen Gebieten. Kein Name der weltweit operierenden Hotelketten fehlt. Luxusvillen für die anspruchsvollste Kundschaft sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Viele Ferienresorts können problemlos per Flugzeug erreicht werden. Europäische wie asiatischen Touristen gleichermassen nutzen die Möglichkeit und buchen Individual- wie auch Pauschalreisen. Tausende von Arbeitsplätzen sind so in den letzten Jahren entstanden.

Das rasante Wachstum machte auch nicht Halt bei der Anzahl börsenkotierter Unternehmen. Waren es im 2007 noch etwas mehr als 200 auf die beiden Börsen in Ho-Chi-Minh-Stadt (HSX) und Hanoi (HNX) verteilt, sind es heute schon über 1’200 Unternehmen, die um die Gunst der Anleger buhlen. Davon alleine mehr als 500 an der vor kurzem eingeführten UPCoM (Unlisted Public Company Market).

Jedoch darf die schiere Anzahl kotierter Aktien an der HSX und HNX nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Top 50 Aktien 84 Prozent der Marktkapitalisierung ausmachen und somit eine grosse Anzahl kleiner Firmen mit wenig Volumen im Sog der Grossen mitgezogen werden.

«Diesem Ziel wird alles untergeordnet: Wachstum um jeden Preis»

Bis vor wenigen Wochen hoffte man noch auf einen Upgrade vom MCSI Frontier Market Segment in das MSCI Emerging Market Segment. Das dies nicht gelang, ist vor allem zwei Faktoren zuzuordnen: Der nach wie vor bestehenden «Foreign Ownership Limit» in gewissen Sektoren führt oft dazu, dass ausländische Investoren nicht in die gewünschten Firmen investieren können, weil keine frei verfügbaren Aktien für Ausländer handelbar sind. Und zweitens, weil noch immer viele marktrelevanten Angaben nur auf Vietnamesisch verfügbar sind.

Die stetige Weiterentwicklung und Professionalisierung des Börsenhandels spart heute im Gegenzug zu vor zehn Jahren einiges an Zeit und Geld ein. Musste man anfänglich bei vielen Aktientransaktionen mit dem Aktienbüchlein zum Hauptsitz der Firma fahren, um den Kauf der Papiere durch Stempel und Unterschrift in einem Aktienbuch bestätigen zu lassen, ist dies heute nicht mehr notwendig. Mehrheitlich wird elektronisch abgewickelt.

Auch auf dem Arbeitsmarkt hat sich einiges geändert: So findet man heute eine grössere Anzahl gut ausgebildeter junger Jobanwärter im Finanzsektor, die über ein Wirtschaftsstudium und eine Weiterbildung, zum Beispiel dem CFA, verfügen. Dies war vor zehn Jahren noch anders.

Alles in allem wird Ho-Chi-Minh-Stadt immer westlicher, wie viele Grossstädte dieser Welt. Die grossen Modelabels haben auch hier Einzug gehalten. Der grosse Unterschied zum Westen ist aber der unbändige Wille der jungen Bevölkerung, erfolgreich zu sein und die Armut hinter sich zu lassen. Diesem Ziel wird alles untergeordnet: Wachstum um jeden Preis. Wollen wir mithalten, müssen wir uns warm anziehen.


Marco Martinelli ist Mitinhaber der Firma Turicum Investment Management in Baar, die sich auf die Vermögensverwaltung mit vietnamesischen Aktien spezialisiert hat. Er lebt und arbeitet seit mehr als zehn Jahren in Vietnam.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Beat Wittmann, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Nicolas Roth, Thorsten Polleit, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Peter Kurer, Kinan Khadam-Al-Jame, Werner E. Rutsch, Robert Hemmi, Claude Baumann, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Frédéric Papp, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Didier Saint-Georges, Mario Bassi, Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach, Michael Hasenstab, Guido Schilling, Werner E. Rutsch, Dorte Bech Vizard, Adriano B. Lucatelli, Katharina Bart, Maya Bhandari, Jean Tirole und Hans Jakob Roth.

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