Demografie, tiefe Anlagerenditen und unrealistische regulatorische Vorgaben – das Schweizer Vorsorgesystem ist in Gefahr, schreibt Jens Pongratz in seinem exklusiven Essay für finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Die Digitalisierung macht auch vor dem Vorsorgesystem nicht halt. Genauso wenig tut dies die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft. Das Eigeninteresse gerät immer mehr in Konflikt mit dem Gemeinschaftsdenken. Das kann man gut oder schlecht finden. Es ist eine Feststellung, die unter anderem auch bei den Abstimmungen zur Billag oder Altersvorsorge 2020 bestätigt wurde.

Auch zeigten die Abstimmungen eine gespaltene Bevölkerung, nicht nur regional, sondern vor allem auch zwischen den Generationen. Es stellt sich die Frage, ob der Generationenvertrag in seiner heutigen Form überdacht werden muss.

«Wer hat schon den Gesamtüberblick über die persönliche Vermögenssituation?»

Möglicherweise hat die Tendenz zur Individualisierung auch mit fehlendem Wissen und Transparenz bezüglich der individuellen Vorsorgesituation zu tun. Wer hat schon den Gesamtüberblick über die persönliche Vermögenssituation bei allen drei bekannten Säulen des Schweizer Systems?

In allen drei Säulen werden die Vorsorgegelder nach bestimmten, wenig flexiblen Kriterien angelegt mit dem Ziel, eine Rendite zu erzielen, die für jeden eine bestimmte Vorsorgeleistung ermöglichen soll. Damit wird das System – und insbesondere die zweite Säule – den teils sehr unterschiedlichen Vorsorgezielen und der Vorsorgesituation des Einzelnen nicht gerecht. Man denke nur an die Risikobereitschaft, die bei jüngeren und älteren Beitragszahlern sehr unterschiedlich ist, nicht zuletzt aufgrund des jeweiligen Anlagehorizonts.

Um diesem Aspekt Rechnung zu tragen, bräuchte es eine Individualisierung der Altersvorsorge– dies aber ohne das Gemeinschaftsdenken aufzugeben. Wie soll das gehen? Und was müssten die Pensionskassen tun, um dem wachsenden Wunsch nach mehr Transparenz und Individualisierung gerecht zu werden?

«Eine solche Übersicht muss er heute umständlich selber zusammentragen»

Die Digitalisierung könnte einen Lösungsansatz bringen, indem die neuen Möglichkeiten genutzt werden, um die private Vorsorge zu individualisieren und die zweite Säule vermehrt in einem Gesamtkontext der persönlichen Vorsorgesituation zu sehen. Fintech mit Robo-Advisory oder der aktuell häufig diskutierten Blockchain-Technologie ermöglicht dies schon heute. Denn damit ist es möglich, für jeden einzelnen Versicherten ein individuelles Ziel- und Restriktionenprofil zu erstellen.

Dieses sollte man im Gesamtkontext eines sogenannten «personal balance sheet» sehen, auf dem sowohl die erste, zweite und dritte Säule als auch etwaige weitere private Vorsorgeleistungen aufgeführt sind. Hierdurch werden allfällige Vorsorgelücken oder Friktionen zwischen Zielen und Möglichkeiten beleuchtet und der Kunde erhält eine transparente und individuelle Übersicht über seine gesamte Vorsorgesituation. Eine solche Übersicht muss er heute umständlich selber zusammentragen und gemeinsam mit Beratern austarieren. Dies könnten in Zukunft Algorithmen übernehmen.

«Die Anbieter sind gefordert»

Auf Seiten der Pensionskasse kann für jeden Kunden hierdurch eine individualisierte Anlagestrategie implementiert werden, die nicht nur an das Alter, sondern auch an die persönlichen Lebensumstände und Ziele angepasst ist. Somit hat jeder Versicherte eine auf sich zugeschnittene Vermögensanlage und ist doch im Ganzen mit allen anderen Versicherten verbunden und profitiert von Effizienz-, Know How- und Skalengewinnen.

Was bedeutet das für die Anlagestrategie von Pensionskassen? Der Charme dieses Ansatzes ist, dass er so gut wie keine Auswirkungen auf die Anlagestrategie der Pensionskassen haben muss. Die Pensionskassen, Versicherer und auch die staatliche Rente müssen jedoch für die notwendige Transparenz sorgen und in Zusammenarbeit eine technologische Lösung bieten, damit die Kunden eine adäquate und aktuelle Übersicht über alle Sparvermögen und Versicherungsansprüche haben.

Nur dann kann das individuelle «personal balance sheet» auch umgesetzt werden und den vollen Nutzen entfalten. Die Anbieter sind also gefordert, die entsprechende digitale Infrastruktur und gegebenenfalls auch Know-How im Bereich der individuellen Kundenberatung aufzubauen. Eine weitergehende Professionalisierung des gesamten Setups ist, auch im Asset Management selbst, von Nöten.


Jens Pongratz ist seit 2010 Direktor für Investment Solutions bei Corestone Investment Management und betreut die Portfolios von Schweizer und internationalen Kunden. Zuvor war er als Senior Analyst im Manager Selection Team tätig. Bevor er 2007 zu Corestone stiess, war er sechs Jahre lang als Investment Consultant für Dr. Dr. Heissmann in Deutschland tätig. Er verfügt über 16 Jahre Investmenterfahrung, ist CFA Charterholder und Financial Risk Manager. Er besitzt zwei Master-Abschlüsse in Volkswirtschaft.


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