Dass das Wort «Schuld» auf Deutsch nicht nur eine finanzielle Verpflichtung, sondern auch eine moralische Verfehlung beschreibt, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen auch jener Kritiker, die generell nur geringe Kenntnisse über Deutschland haben, schreibt Stefan Schneider auf finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Derzeit wird man als deutscher Ökonom, der immer noch nicht einsehen mag, dass es in Deutschland höchste Zeit für ein massives staatliches Konjunkturprogramm sei, von der Mehrzahl der angelsächsischen Investoren nur milde belächelt. Vor allem dann, wenn man, wie die Deutsche Bank, einer der ersten war, der bereits früh im Jahr vor einer Rezession gewarnt hat.

Mittlerweile gehen Bundesregierung, Bundesbank sowie einige Forschungsinstitute ebenfalls zumindest von einer technischen Rezession aus, das heisst einem weiteren Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) im dritten Quartal 2019 nach -0,1 Prozent im zweiten Quartal 2019.

«Die aktuelle Phase einer positiven Produktionslücke ist die längste der vergangenen 50 Jahre»

Worauf also noch warten, fragen EZB, IWF und die Finanzminister der Eurogruppe immer ungeduldiger. Der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman sieht sogar in der «starrsinnigen» deutschen Fiskalpolitik eine Hauptquelle für die Probleme der Weltwirtschaft. Dies dürfte angesichts der gerade mal 3,2 Prozent, die Deutschland zum globalen BIP (PPP-Basis) beiträgt, etwas viel der Ehr‘ sein.

Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier lehnt zwar Konjunkturprogramme alten Stils ab, möchte eine Rezession aber auf jeden Fall vermeiden, bezeichnet dies sogar als Inbegriff der «Staatskunst». Er verweist zu Recht auf den (aussergewöhnlich langen) zehnjährigen Aufschwung, den er gerne noch weiter verlängern möchte.

Aus der Konjunkturtheorie wissen wir, dass ein Aufschwung in einen Boom übergeht, wenn die laufende Wachstumsrate über der Trendrate liegt und die aus dem vorhergehenden Abschwung resultierende Unterauslastung der Wirtschaft überwunden ist (positive Produktionslücke). Nach einhelliger Meinung von IWF, OECD und Bundesbank ist dies in Deutschland bereits seit 2014 der Fall. Die aktuelle Phase einer positiven Produktionslücke ist somit die längste der vergangenen 50 Jahre. Lediglich der Wiedervereinigungsboom, der bereits 1988 begann, dauerte genauso lange.

«Sind die Politiker und die sie beratenden Ökonomen nicht viel schlauer geworden?»

Ähnlich dem Glauben an ein Perpetuum Mobile in der Physik gibt es in der Politik und bei einigen Ökonomen den Glauben an einen immerwährenden Aufschwung, bei dem der untere Teil der Konjunkturamplitude durch clevere Politik (Staatskunst) quasi eliminiert werden kann. Angesichts des sinkenden Trendwachstums wird es sogar wahrscheinlicher, dass ein konjunktureller Abschwung zu negativem BIP-Wachstum führt.

Mit der sogenannten Globalsteuerung unter Wirtschaftsminister Karl Schiller wurde diese Vorstellung in den 1960er-Jahren gar Leitbild der deutschen Wirtschaftspolitik. Anstatt in das ökonomische Schlaraffenland führte sie aber in die Stagflation der 1970er- und frühen 1980er-Jahre und damit in die schlechteste aller Welten, in der die Arbeitslosenzahl, die Inflation und die Staatsverschuldung kräftig stiegen.

Aber halt, sind die Politiker und die sie beratenden Ökonomen nicht viel schlauer geworden? Und hat nicht die Vermeidung eines wirtschaftlichen Armageddon infolge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gezeigt, dass antizyklische Politik funktioniert? Natürlich war das weltweit koordinierte Handeln von Geld- und Fiskalpolitik in den Jahren 2009/2010 richtig. Allerdings war auch der Welthandel zum Jahreswechsel 2008/09 regelrecht kollabiert und innerhalb von nur drei Monaten um rund 15 Prozent gefallen. Der Einbruch an den globalen Aktienmärkten signalisierte einen massiven Vertrauensverlust und ganz im Sinne von Keynes hat die staatliche Nachfrage erfolgreich versucht, den Kollaps der privaten Nachfrage auszugleichen.

«Dieses Homonym versinnbildlicht die deutsche Obsession in Bezug auf Verschuldung»

Allerdings haben viele Länder es in der Folge versäumt, beizeiten aus dem Krisenmodus auszusteigen. Die Staatsverschuldung liegt weltweit trotz eines Rückgangs um knapp 7 Prozentpunkte in den vergangenen drei Jahren noch 23,5 Prozentpunkte über dem Niveau im dritten Quartal 2008. Die globale Verschuldung ausserhalb des Finanzsektors ist gar um 36 Prozentpunkte von 197,7 Prozent des BIP im dritten Quartal 2008 auf zuletzt 233,7 Prozent gestiegen. Bei unveränderter Gesetzeslage wird der Schuldenstand in den nächsten zehn Jahren um 15 Prozentpunkte des BIP, wenn es schlecht läuft eventuell gar um 27-Prozent-Punkte klettern.

Dass das Wort «Schuld» in der deutschen Sprache nicht nur eine finanzielle Verpflichtung, sondern auch eine moralische Verfehlung beschreibt, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen auch der Kritiker, die ansonsten wenig Deutschkenntnisse (und häufig auch nur geringe Kenntnisse über Deutschland) vorweisen können. Dieses Homonym versinnbildlicht in den Augen dieser Kritiker die deutsche Obsession in Bezug auf Verschuldung.

«Deutschland hat hier ohne Zweifel Nachholbedarf»

Diese kollektive Paranoia habe sogar masochistische Züge, argumentieren sie. So könne sich doch der Staat zu negativen Zinsen am Markt finanzieren, damit wachstumsfördernde Bildungs- und Infrastrukturinvestitionen auf den Weg bringen, die über das dadurch induzierte höhere zukünftige BIP-Wachstum quasi selbstfinanzierend sind.

Nun steht es ausser Frage, dass ein höheres Bildungsniveau der Bevölkerung und eine moderne Infrastruktur neben den privaten Investitionen Grundlagen für ein nachhaltiges Wachstum sind. Deutschland hat hier ohne Zweifel Nachholbedarf, wenn auch das pauschale Bild einer «zerbröselnden Infrastruktur», das Professor Krugmans Fernanalyse ergibt, sicherlich übertrieben ist.

«Damit sollte klar sein, dass derzeit ein deutsches Konjunkturpaket nicht angebracht ist»

Die Kunst besteht darin, nicht aufgrund kurzfristiger politischer Interessen mit der Giesskanne oder nach dem Motto «viel hilft viel» zu agieren. Angesichts des massiven Strukturwandels besteht die wahre Staatskunst vielmehr darin, solche Investitionen zu identifizieren, die tatsächlich unser zukünftiges Wachstumspotenzial erhöhen, dabei aber Wahlgeschenke und Klientelpolitik zu vermeiden.

Damit sollte klar sein, dass zumindest derzeit ein deutsches Konjunkturpaket nicht angebracht ist und eine Verschwendung von Steuergeldern darstellen würde. Vielmehr sollte der Staat seine bereits angelegte kontinuierliche Erhöhung der Bildungs- und Infrastrukturinvestitionen durch eine kluge Standortpolitik begleiten und damit deren Wachstumseffekte erhöhen.


Stefan Schneider von der Deutschen Bank ist Chefökonom für Deutschland und für Makroökonomie. Seine Schwerpunkthemen sind Geldpolitik, Demografie und Behavioral Economics.


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