Der enorme Börsenwert, der in den vergangenen Wochen vernichtet wurde, unterstreicht deutlich, dass es an der Zeit ist, zu den Fundamentaldaten zurückzukehren und der realen Wirtschaft wieder den Vorrang zu geben, wie Jean Keller in seinem Essay für finews.first schreibt.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Die Coronavirus-Krise hat zweifellos noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, und es wird vermutlich noch viel Tinte fliessen beim Versuch, die medizinischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen abzuschätzen. Für Mutmassungen ist es also noch zu früh, ausser vielleicht, dass die meisten Veränderungen wahrscheinlich weniger spektakulär ausfallen werden, als manche hoffen, aber zugleich auch wesentlich tiefgreifender und beständiger als andere fürchten.

Und doch, wenn es einen Bereich gibt, wo man schon gewisse Vorhersagen wagen kann, ist dies wahrscheinlich jener der Vermögensverwaltung, der durch den plötzlichen und starken Einbruch der Märkte und die beachtenswerte (und beachtete) Rückkehr der Volatilität in seinen Fundamenten erschüttert wurde.

«Die Finanzmodelle waren vollkommen unfähig, den Umfang der Korrektur an den Märkten vorherzusehen»

Dabei ist anzumerken, dass unsere Branche durch zwei parallele Diskussionen geprägt wird, die nicht immer verbunden sind. Die erste ist eine immer wiederkehrende Diskussion über den Einsatz quantitativer Methoden, während die zweite die ewige Kontroverse um die passive Verwaltung und die Vorteile von ETFs im Portfoliomanagement zum Thema hat.

Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Finanzmodelle vollkommen unfähig waren, den Umfang der Korrektur an den Märkten vorherzusehen. Die Entwicklungen bei Obligationen, Aktien und sogar auch beim Gold, immerhin der Fluchtwert schlechthin, waren derart heftig, dass ihre Ausschläge klar über jene der inzwischen berühmten «Schwarzen Schwäne» hinausgehen, die seit dem Buch des Ökonomen Nassim Nicholas Taleb immer wieder beschworen werden.

Einige Zahlen machen dies deutlich. So entsprach Mitte März der Einbruch der Märkte bei Obligationen der neunfachen historischen Standardabweichung, bei Aktien der zehnfachen und bei Gold der fünffachen. Es sei daran erinnert, dass die Standardabweichung eine Abweichung vom Mittelwert bedeutet, die in 68,2 Prozent aller Fälle eintritt.

«Die quantitativen Modelle haben massiv zur Erhöhung der Volatilität beigetragen»

Beim Gold entspricht die fünffache Standardabweichung einem statistischen Ereignis, das nur einmal alle 67'000 Jahre eintreten dürfte. Für die anderen beiden Märkte sind die Zahlen derart hoch, dass sie menschlicher Vorstellung nicht mehr greifbar sind: einmal alle 1017 Jahre und einmal alle 1021 Jahre bei Obligationen respektive Aktien. Mit anderen Worten waren die quantitativen Modelle absolut unnütz, um die Anleger in dieser Krise zu orientieren, und haben im Gegenteil massiv zur Erhöhung der Volatilität beigetragen.

Eine Vielzahl von so genannten «modernen» Verwaltungstechniken, die dank der heutigen Vorliebe für künstliche Intelligenz boomen, stützen sich auf Modelle, die auf der Annahme beruhen, dass die Märkte sich stets innerhalb bestimmter quantifizierbarer Grenzen entwickeln. Und dass, wenn man diese statistischen Grenzwerte verwendet, das Risiko der Portfolios wissenschaftlich kontrollieren kann. Man füge noch gewisse Voraussetzungen über das Bestehen von Extremereignissen (die berühmten «Schwarzen Schwäne») hinzu, und schon ist alles fertig!

«Der daraus resultierende Schneeballeffekt wurde rasch zu einer verheerenden Lawine»

Im Vertrauen auf diese Modelle wurden die Hebel mit der Zeit deutlich erhöht. Die Realität hat diese Verfahrensweise jedoch leider knallhart scheitern lassen. Als nämlich die Märkte gänzlich aus dem Rahmen fielen, den ihnen die Quantitativ-Gurus verpasst hatten, waren viele Verwalter, die Verwaltungstechniken auf Basis der «Risikoparität» oder so genannte systematische Ansätze anwendeten – und die alle massiv auf Hebeleffekte setzen –, gezwungen, ihre Anlagen in höchster Not zu verkaufen, während zugleich die gewöhnlichen Akteure selbst ihr Risiko mitten in der allgemeinen Baisse reduzierten. Der daraus resultierende Schneeballeffekt wurde rasch zu einer verheerenden Lawine.

Für die Anleger ganz allgemein – und jenseits des Vermögenseffekts, der alle voll getroffen hat – waren diese Verwerfungen wegen des allgemeinen Einsatzes von ETFs zu spüren, diese überaus nützlichen Instrumente, die zweifellos zu ausgiebig und nicht immer mit dem nötigen Augenmass eingesetzt werden. Denn mit zunehmendem Erfolg wurden ETFs auf allerhand unsinniger Basis geschaffen.

«Hier sollen die ETFs keineswegs mit dem Bade ausgeschüttet werden»

Und hier liegt das Problem: Nur weil diese Instrumente a priori einen Korb von sehr liquiden Titeln korrekt nachbilden, gilt dies noch lange nicht für weniger stark gehandelte Anlageklassen. In Wirklichkeit hat die effektive Entwicklung unzähliger Instrumente mit starkem Hebeleffekt oder solcher, die versuchen, nicht nachzubildende Indizes nachzubilden (etwa im Kreditbereich), viele Anleger überrascht, die sich zu Unrecht im Schutz der von gewissen grossen Vermögensverwaltern gepriesenen Doxa der «rein passiven» Verwaltung wähnten.

Ein konkretes Beispiel wäre hier einer der grössten ETFs weltweit, der Total Bond Market von Vanguard, der trotz allem 70 Prozent US-Treasuries hält (die liquidesten Instrumente der Welt!) und am 12. März einen Abschlag von 6,17 Prozent auf seinen theoretischen Wert aufwies!

Hier sollen aber weder die ETFs mit dem Bade ausgeschüttet werden, noch soll die Debatte zwischen Befürwortern von aktiver und jenen von passiver Verwaltung abschliessend geklärt werden. Im Gegenteil: ETFs sind ein bevorzugtes Mittel, um in einem Allokationsraster rasch ein neutrales Exposure zu erreichen.

«Was gibt es Besseres, um die Spreu vom Weizen zu trennen, als die fundamentale Finanzanalyse?»

Dagegen ist es vielleicht wie bei den Konsumenten, die anfangen, die allzu stark verarbeiteten industriellen Lebensmittel in Frage zu stellen und sich einer natürlicheren Ernährung zuzuwenden, an der Zeit, zu direkteren und «echteren» Anlagen zurückzukehren. Denn im Zuge der immer synthetischeren Konstrukte hat man gelegentlich die zugrunde liegende Realität aus dem Auge verloren.

Die Vermögensverwaltung sollte auch nicht vergessen, dass es ihre Rolle in der Gesellschaft ist, die Allokation von Kapital in den produktivsten Sektoren und vor allem Unternehmen zu gewährleisten und nicht nach dem Giesskannenprinzip über gute wie schlechte Firmen zu verteilen. Und was gibt es Besseres, um die Spreu vom Weizen zu trennen, als die fundamentale Finanzanalyse, die es erlaubt, die richtigen Unternehmen zu identifizieren?


Jean Keller stiess 2011 als CEO und Partner zum Genfer Vermögensverwalter Quaero Capital. Zuvor war er CEO von 3A (Alternative Asset Advisors), einer alternativen Anlageabteilung der Schweizer Bankengruppe Syz. Vor seinem Eintritt bei Syz war Keller elf Jahre lang in verschiedenen Funktionen innerhalb der Lombard Odier Darier Hentsch (LODH) Gruppe in Genf, New York und London tätig, wo sein Vater als Partner tätig war. Von 2002 bis 2004 war er CEO der LODH Asset Management in London und Mitglied der Geschäftsleitung der Gruppe. Er leitete auch die institutionelle Vermögensverwaltung von LODH und war Mitglied des Asset Management Board. Sein Bruder ist Hubert Keller, der nächste Senior Managing Partner bei Lombard Odier.


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