Die Pandemie scheint endlich unter Kontrolle zu sein und damit auch die Ausnahmesituation, von der die Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren geprägt war, schreibt Fernando Fernández in seinem Essay auf finews.first. Wie geht es weiter?


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen


In der EU zeigt sich diese Rückkehr zur Normalität zum ersten Mal seit 2019 in der Erholung der positiven Zinssätze für die deutsche Zehnjahresanleihe und in der Beendigung des steuerlichen Freiraumes mit historisch hohen Staatsdefiziten in der Eurozone und einem Anstieg der Staatsverschuldung um mehr als 20 Prozent. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die europäischen Steuervorschriften – der Stabilitäts- und Wachstumspakt – im nächsten Jahr wieder gelten werden – die Debatte über die Notwendigkeit ihrer Überarbeitung hat bereits begonnen.

Seit der Finanzkrise vor zwölf Jahren besteht ein breiter fachlicher Konsens über die Notwendigkeit einer Reform des fiskalpolitischen Steuerungsrahmens im Euroraum. Die steuerrechtlichen Vorschriften sind nicht transparent und übermässig komplex, unterliegen einem Ermessensspielraum und sind politisch umstritten, wirken prozyklisch und verhindern kaum ein unverantwortliches haushaltspolitisches Verhalten in guten Jahren.

«Das Auslaufen dieser Geldpolitik wurde bereits für März 2022 angekündigt»

Die öffentlichen Investitionen sind in Europa nicht infolge der Steuervorschriften zurückgegangen, sondern aufgrund der Finanzierungsschwierigkeiten, die für jede Rezession charakteristisch sind - wie es weltweit bei jeder Finanz-, Steuer-, Wechselkurs- oder Zahlungsbilanzkrise der Fall war, es sei denn, die Zentralbank greift auf die Monetarisierung von Schulden zurück. Dabei handelt es sich um einen entscheidenden Faktor, denn die Einschränkung der öffentlichen Ausgaben, die mit dieser neuen Politik vermieden werden soll, ist nur möglich, sofern die EZB ihre Politik der mengenmässigen Lockerung auf unbestimmte Zeit beibehält.

Das Auslaufen dieser Geldpolitik wurde bereits für März 2022 angekündigt. Im Grunde werden keine neuen Steuerregeln vorgeschlagen, sondern eine «steuerliche Dominanz», die gewährleistet, dass die EZB der Bereitstellung von «übergeordneten» öffentlichen Gütern wie Dekarbonisierung, Digitalisierung und sozialer Eingliederung sowie dem Kampf gegen Ungleichheit dient. Eine unbegrenzte Ausweitung der Fiskalpolitik in Rezessionen, wie vorgeschlagen wird, ist nicht möglich, ohne die Gefährdung der Unabhängigkeit der Zentralbank oder gar die Änderung der derzeitigen Regeln und die unbegrenzte Kreditaufnahme durch die Kommission in Kauf zu nehmen.

«Ein struktureller Investitionsfonds wirkt in der Regel nicht durch Transferleistungen»

Der Kern des Vorschlags dieser paraoffiziellen Expertengruppe besteht in der Umwandlung des Europäischen Resilienz- und Wiederaufbaufonds (RRF) in einen ständigen, zentralisierten Fonds für Investitionen in europäische Gemeinschaftsgüter. Das scheint mir ein Fehler, denn dadurch wird er zu einem, die bestehenden Fonds ergänzenden bzw. ersetzenden Strukturfonds. Ein struktureller Investitionsfonds wirkt in der Regel nicht durch Transferleistungen, sondern durch Kredite zu Sonderkonditionen für eine Sicherung der Interessen des Empfängers.

Er ist deshalb immer mit strengen Auflagen verbunden, um seine Wirksamkeit zu gewährleisten, und dient nicht als antizyklisches Politikinstrument. Ein Strukturinvestitionsfonds, wie der vorgeschlagene, kann keinesfalls die makroökonomische Stabilisierungsmassnahme sein, die von der Europäischen Währungsunion, wie von jeder anderen Währungsunion auch, benötigt wird. Das beste Beispiel ist der RRF selbst, der weder dazu beitrug, die Erschütterung bei Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 aufzuhalten, noch den Aufschwung im Jahr 2021 zu beschleunigen. Vielmehr wird es während des ganzen Jahres 2022 und vor allem 2023 Auszahlungen geben in der EU, die über ihr Potenzial hinaus wächst und die Gefahr besteht, es könnte ein gefährlicher Inflationsdruck erzeugt werden.

«An die Stelle von Disziplin tritt ein ständiger Dialog»

Viele weitere interessante Vorschläge wurden gemacht; alle gehen jedoch von der Schwierigkeit aus, sowohl einen Governance-Rahmen als auch eine notwendigerweise expansive Finanzpolitik festzulegen. So wird beispielsweise vorgeschlagen, das präventive Instrument des Defizitverfahrens sollte erst dann zur Anwendung kommen, wenn der betreffende Staat einen ausgeglichenen Haushalt erreicht hat. Damit verliert diese Massnahme ihren Sinn. Ein weiterer Vorschlag lautet, die Bedingung nach einem Schuldenabbau im Rahmen des Defizitverfahrens zu streichen und sich in diesem Rahmen lediglich auf die Verringerung der strukturellen Ursachen des Defizits zu konzentrieren.

Dadurch wird es nicht beobachtbar und willkürlich, da es bereits so viele Messgrössen für strukturelle Variablen wie Wirtschaftswissenschaftler gibt. Auch wird weder die Einhaltung von Steuerregelungen noch die eventuelle Verhängung von Sanktionen erwähnt. An die Stelle von Disziplin tritt ein ständiger Dialog zwischen den Institutionen und das schmeichlerische Konzept der nationalen «Eigenverantwortung» (ownership) für die notwendigen Anpassungen zu ihrer Wirksamkeit. Somit gibt es keine klaren und verbindlichen Mechanismen zur Verhinderung von opportunistischem Verhalten.

«Es ist das Argument des geringeren Übels»

Das deutet darauf hin, dass dieser Vorschlag angesichts der öffentlichen Haltung vieler Staaten jenseits der derzeitigen Regierungsmehrheiten in Europa wenig Wirkung entfalten wird. Finanzpolitischen Regelungen müssen unparteiisch sein, damit sich die Politik an den politischen und wirtschaftlichen Zyklus anpassen kann. Ausserdem müssen sie bindend sein, um das richtige Gleichgewicht zwischen Solidarität und Verantwortung gewährleisten zu können. Das gilt umso mehr in einer EU mit so vielen unterschiedlichen souveränen Staaten.

Das Argument der Zweckmässigkeit und der politischen Ökonomie, das dazu bewegt, die Umwandlung des RRF in eine ständige Einrichtung vorzuschlagen ist verständlich. Es ist das Argument des geringeren Übels: Nehmen wir bereits Bestehendes und machen wir es ein wenig besser. Es ist das gleiche Argument, mit dem Änderungen der europäischen Steuerpolitik vorgeschlagen werden, um Einstimmigkeit im Rat oder Änderungen der Verträge zu vermeiden.

«Die für die Währungsunion erforderliche Fiskalunion verlangt eine Änderung der Verträge»

Dieser Versuch führt zu einem hochkomplexen Entscheidungsfindungsprozess und fügt dem ohnehin schon unkontrollierbaren und lähmenden Rahmen noch mehr Institutionen hinzu. Die bereits bekannten Verzögerungen bei der Umsetzung der Finanzpolitik können dadurch nur noch schlimmer werden. Ein unmöglicher Versuch, wie schliesslich eingeräumt wird, wenn die demokratische Legitimität der daraus resultierenden Regierungsführung in der WWU gewährleistet werden soll.

Die für die Währungsunion erforderliche Fiskalunion verlangt eine Änderung der Verträge. Eine Fiskalunion, die eine Stabilisierung der europäischen Fiskalpolitik gegenüber asymmetrischen Erschütterungen ermöglicht, ohne den Steuerwettbewerb zwischen den Volkswirtschaften einzuschränken; eine Fiskalunion mit automatischen Transferleistungen unter zuvor festgelegten Bedingungen in Verbindung mit einem Konjunktur- und Beschäftigungsrückgang, aber eine Union mit einfachen und klaren Regeln, mit denen das Wachstum der öffentlichen Ausgaben zur Vermeidung negativer externer Effekte eingeschränkt wird; eine Wachstumsregel für die Ausgaben, die durch den Schuldenstand im Verhältnis zum BIP angepasst wird, um die Bildung eines steuerlichen Spielraums in Aufschwungsphasen des Wirtschaftszyklus zu gewährleisten; eine automatisch durchsetzbare Regelung, die eine zusätzliche Abtretung der Steuerhoheit erfordert, ähnlich der Übertragung der mit der Bankenunion nach der Finanzkrise erfolgte Währungs- und Finanzhoheit.


Fernando Fernández stiess 2009 als Professor für Wirtschaftswissenschaften zur IE Business School. Er begann als Wissenschaftler, der sich voll und ganz der Lehre und Forschung widmete; danach arbeitete er beim IWF, im Bankenbereich der Santander Group, in der Beratung und als Rektor von Privatuniversitäten. Er versteht die Wirtschaftswissenschaften als eine Wissenschaft im Dienste der Freiheit und des menschlichen Fortschritts. Als Motor der Wohlfahrt erfordert sie die Teilnahme von Ökonomen an öffentlichen Debatten und an der Gestaltung der öffentlichen Meinung.


Bisherige Texte von: Rudi BogniRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard Guerdat, Mario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. Lucatelli, Maya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Andreas Britt, Gilles Prince, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Stéphane Monier, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Marionna Wegenstein, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Brigitte Kaps, Thomas Stucki, Neil Shearing, Claude Baumann, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Niels Lan Doky, Karin M. Klossek, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Bernardo Brunschwiler, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Mark Urquhart, Olivier Kessler, Bruno Capone, Peter Hody, Andrew Isbester, Florin Baeriswyl, Agniszka Walorska, Thomas Müller, Ebrahim Attarzadeh, Marcel Hostettler, Hui Zhang, Michael Bornhäusser, Reto Jauch, Angela Agostini, Guy de Blonay, Tatjana Greil Castro, Jean-Baptiste Berthon, Dietrich Grönemeyer, Mobeen Tahir, Didier Saint-Georges, Serge Tabachnik, Rolando Grandi, Vega Ibanez, David Folkerts-Landau, Andreas Ita, Teodoro Cocca, Michael Welti, Mihkel Vitsur, Roman Balzan, Todd Saligman, Christian Kälin, Stuart Dunbar, Fernando Fernández, Carina Schaurte, Birte Orth-Freese, Gun Woo, Lamara von Albertini, Philip Adler, Ramon Vogt, Gérard Piasko, Andrea Hoffmann, Niccolò Garzelli, Darren Williams, Benjamin Böhner, Mike Judith, Grégoire Bordier, Jared Cook, Henk Grootveld, Roman Gaus, Nicolas Faller, Anna Stünzi, Philipp Kaupke, Thomas Höhne-Sparborth, Fabrizio Pagani, Taimur Hyat, Ralph Ebert, Guy de Blonay, Jan Boudewijns, Beat Wittmann, Sean Hagerty und Alina Donets, Sébastien Galy, Lars Jaeger und Roman von Ah.

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