Wie die Schweiz selbst hat es die Unternehmenswelt seit jeher vorgezogen, sich aus der Politik und aus anderen kontroversen Debatten herauszuhalten. Welche Legitimation hätte eine Zahnpasta-Herstellerin, sich zu einem geopolitischen Konflikt, einer Abstimmung oder dem übermässig geschlechtsspezifischen Vokabular einer öffentlichen Person zu äussern?, fragt Sherif Mamdouh in seinem Essay für finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Eine Studie aus dem Jahr 2018 hat gezeigt, dass 64 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten weltweit ein Produkt allein aufgrund von Werten kaufen oder boykottieren, Tendenz steigend. Wir müssen uns also positionieren, und zwar zu allem und schnell. Wie der Kolumnist Kian Bakghtiari unlängst im US-Wirtschaftsmagazin «Forbes» schrieb, ist der Begriff «Boykott», der bis vor Kurzem einem radikalen Rand der Bevölkerung vorbehalten war, nun das Vorrecht des Durchschnittsverbrauchers, der verlangt, dass Produkte und Dienstleistungen mit seinen Ansichten übereinstimmen.

Wie die Schweiz, die vor kurzem aus ihrem Schweigen heraus Sanktionen gegen Russland verhängte, sind die Unternehmen heute gezwungen, zu zahlreichen Themen Stellung zu beziehen – wie eine Art ethische und moralische Prüfung, der sie sich ständig unterziehen müssen, um ihrer Kunden würdig zu bleiben.

«Im Zeitalter Sozialer Netzwerke kann die Vehemenz der Kritik tödlich für den Ruf sein»

Die Schweizer Finanzbranche befindet sich also in einem ziemlichen Dilemma. Weltweit bekannt für ihre (ich wage es zu sagen: langweilige) Diskretion und bemüht um die Erneuerung ihres Dienstleistungsangebots in einer zunehmend homogenen globalen «Industrie», müssen ihre Akteure nun Stellung beziehen und ihre Meinung sagen... Solange sie keinen ihrer potenziellen Kunden verletzen, nichts sagen, was als Aufforderung oder Empfehlung interpretiert werden könnte, oder das Ego eines Interessenvertreters verletzen.

Doch gibt es in der Finanzkommunikation noch Raum für Kreativität? Im Zeitalter leistungsfähiger Sozialer Netzwerke kann die Vehemenz der Kritik tödlich für den Ruf sein und ein Durchgreifen der Finma sehr kostspielig werden. Wie kann man sich also abheben und einen Markenwert schaffen?

Der Aufstieg der «Cancel Culture», einer Art sozialer Selbstjustiz auf der Grundlage von Tiraden, wie sie der Reputation Intelligence-Spezialist LaFrenchCom beschreibt, steht wahrscheinlich im Mittelpunkt dieses Rätsels (vorausgesetzt, die regulatorischen Gebote werden eingehalten). Es handelt sich um ein phänomenales Instrument für den sozialen Fortschritt, das aber auch eine Reihe unglücklicher Nebeneffekte mit sich bringt.

«Warum fühlt sich das alles zu fade an?»

Welche Marke würde es noch wagen, eine Kampagne im Geiste von «United Colors of Benetton» und seinen menschlichen Regenbögen zu entwickeln? Die erste Frage, die einem Art Director wohl in den Sinn käme, wäre: «Wen haben wir vergessen?», aus Angst, grossen Ärger zu bekommen oder der Diskriminierung beschuldigt zu werden – obwohl die zugrundeliegende Botschaft der Kampagne dieser Kritik diametral entgegengesetzt ist.

Doch auch dreissig Jahre später kennt jeder die Marke Benetton und assoziiert sie mit Werten wie Vielfalt und Integration. Sie war mutig, aufrichtig, anders und wurde auch als solche bezeichnet. Alles, was man für eine starke und dauerhafte Markenidentität braucht.

Natürlich können wir von einer Schweizer Bank oder von einem Vermögensverwalter nicht erwarten, dass sie so weit gehen. Benetton verkaufte ein Erlebnis an eine Generation von Kindern, die «Winds of Change» sangen, als die Berliner Mauer fiel, und jubelten, als Nelson Mandela den Friedensnobelpreis erhielt. Andere Zeiten, andere Ziele. Worauf also sollte sich die Kommunikation von Finanzinstituten heutzutage konzentrieren? Warum fühlt sich das alles zu fade an?

«ESG-Kriterien sind eindeutig kein Markendifferenzierungsmerkmal mehr»

In den vergangenen zehn Jahren haben wir ein wachsendes Interesse an ESG-bezogener Kommunikation beobachtet. Sich für eine grüne Zukunft einzusetzen, schien einfach genug und ein sicherer Gewinn für das Publikum zu sein. Der Ansturm auf die Umweltfreundlichkeit geriet jedoch so sehr ausser Kontrolle, dass es der gesamten Branche an kritischem Denken mangelte. Viele konzentrierten sich auf die Verpackung und vergassen, dass der Teufel im Detail steckt. Und jetzt erleben wir die Gegenreaktion, denn wir haben viel an Glaubwürdigkeit verloren, und «Greenwashing» ist ein weiterer Fallstrick. Was ESG selbst anbelangt, so sind diese Kriterien eindeutig kein Markenunterscheidungsmerkmal mehr.

Laut Jennifer Aubrecht, Leiterin Marketing und Kommunikation bei der Atlantic Financial Group, «sehen die meisten Marken in der Finanzbranche gleich aus und fühlen sich gleich an. Aufgrund der regulatorischen Beschränkungen und des Reputationsdefizits, unter dem die Branche leidet, ist sie zu einer Konsensbranche geworden, in der die meisten Akteure lieber im Unrecht sind und bei der Herde bleiben, als ein Risiko einzugehen und mutig genug zu sein, um eine Reihe von Unterscheidungsmerkmalen zu entwickeln und daraus Kapital zu schlagen».

Dazu bedarf es keiner pharaonischen Projekte

Das Verkaufsargument der Finanzbranche lässt sich auf zwei Dinge reduzieren: Vertrauen und Wissen. Es versteht sich daher von selbst, dass eine der wichtigsten Achsen der Kommunikation die Erstellung, Verbreitung und Förderung von «Thought Leadership» (dt. Meinungsführerschaft, Deutungshoheit) ist. Kein noch so ausgefallenes Branding der Welt kann jemals den Wert eines vertrauenswürdigen und bewährten Beraters ersetzen.

Wer die Medienlandschaft kennt, weiss, dass es ein absolutes Muss ist, ein Umfeld für hochwertige Informationen zu schaffen, das kritisches Denken und Wissensaustausch ermöglicht. Dazu bedarf es keiner grossen Pläne und pharaonischen Projekte. Es erfordert lediglich die Fähigkeit, eine bevorzugte Informationsquelle für die führenden Medien zu werden, indem man stets transparent und zeitnah ist. 

Ein interessantes Postulat besteht darin, den gesellschaftlichen Wandel zu akzeptieren, der die Cancel Culture hervorgebracht hat, und zu versuchen, sich in diesem neuen Kontext zu definieren. Denn letztlich ist die eigene Meinung zu diesem Phänomen irrelevant und wird es nicht zum Verschwinden bringen. Es ist also eine tiefere Frage als die der Kommunikationsstrategie, die sich stellt.

«Es geht um die Unternehmenskultur»

Es geht nicht um die Markenidentität, sondern um die Unternehmenskultur. Ist diese einmal identifiziert und klar definiert, gibt sie einen klaren Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Kommunikation in ihrer ganzen Kreativität entfalten kann. Das Leitmotiv wird die Übereinstimmung mit den eigenen Werten und Überzeugungen und nicht mit den Erwartungen anderer.

Schliesslich scheint die Definition der eigenen Werte, die Festlegung einer Einstellungsstrategie in Übereinstimmung mit diesen Werten und die Akzeptanz der Tatsache, dass man es nie allen immer recht machen kann, der pragmatische Ausgangspunkt für jede Finanzinstitution zu sein, die auf selbstbewusste, aufrichtige und nachhaltige Weise bestehen will. Unsere Legitimität verdanken wir der Konsequenz, mit der wir unsere eigenen Werte vertreten, und nicht unserer Fähigkeit, aus Angst schnell auf einen Zug aufzuspringen.


Sherif Mamdouh ist seit August 2022 selbständiger Kommunikationsberater. Zuvor arbeitete er in verschiedenen Führungsfunktionen in der Hotellerie, insbesondere bei der Ecole hôtelière de Lausanne, sowie in der Finanzbranche, namentlich bei der HSBC Private Bank, der Citigroup sowie zuletzt bei der Genfer Privatbank Syz.


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