Die jüngsten Schwankungen an der Börse seien eine typische, wenn auch völlig irrationale Reaktion auf im Grunde genommen gute Nachrichten, sagt Tim Stevenson von Henderson Global Investors.

Tim Stevenson ist Manager des Henderson Horizon Pan European Equity Fund

Nach dem rasanten Kursanstieg, ausgelöst durch das Versprechen von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), alles zu tun, um den Euro zu erhalten, fragen sich viele Anleger, ob bei Aktien aus Europa nun das Ende der Fahnenstange erreicht ist.

Diese Frage ist berechtigt, denn weite Teile der Medien halten noch immer an ihrem Abgesang auf Europa fest. Zahlreiche Gründe sprechen indes dafür, warum geduldige Anleger nach meiner festen Überzeugung für ein Aufstocken ihres Engagements in Europa-Aktien belohnt werden dürften.

Versteckte Gewinne

Da wären zunächst einmal die Gewinne. Nachdem diese über zwei Jahre auf Talfahrt waren, pendeln sich die Schätzungen sowohl auf «Top-down»- als auch auf «Bottom-up»-Basis inzwischen auf ein Plus von 6 Prozent für 2013 und auf 14 Prozent für 2014 ein.

Aus meiner Warte erscheinen beide Prognosen realistisch, selbst wenn man berücksichtigt, dass der Fiskus weltweit alles daran setzt, zuvor versteckte Gewinne verstärkt zu besteuern.

Höhere Rendite als mit Top-Anleihen

Obwohl also die Kurse an den europäischen Märkten ausgehend von extrem niedrigen Niveaus vor einem Jahr auf breiter Front angezogen haben, dürfte das Gewinnwachstum die Märkte in den nächsten Monaten stützen.

Betrachtet man die europäischen Märkte auf der Basis konjunkturbereinigter Kurs-/Gewinnverhältnisse (KGVs) nach der Shiller-CAPE-Methode, sind europäische Aktien im langjährigen Vergleich selbst heute noch günstig. Und was die Erträge anbelangt, so bieten Aktien aus Europa momentan sogar eine höhere Rendite als Anleihen mit Top-Bonität.

Rückzug aus festverzinslichen Papieren

Zweitens wäre da das «Weight-of-Money»-Argument. Auch mir ist klar, dass dies wohl das schwächste Argument für den Einstieg in einen Markt ist. Inzwischen aber mehren sich die Hinweise, dass Anleger aus dem Ausland sich exakt zu einem Zeitpunkt wieder an Europas Aktienmärkten engagieren, an dem sich institutionelle Anleger mehr und mehr aus Anleihen zurückziehen.

Letztere sind derzeit sowohl was ihre Gewichtung als auch ihren Wert anbelangt so stark in den Portfolios institutioneller Anleger vertreten wie schon lange nicht mehr. Für diese Anleger könnte die jüngste Schwäche an den Rentenmärkten ein weiterer Anreiz sein, ihren Rückzug aus festverzinslichen Papieren zu beschleunigen.

Drückende Schuldenlast

Und sollte die Inflation das von Zentralbankern und Finanzministern gegenüber einer Deflation und langfristigen Stagnation bevorzugte Mittel zum Abbau des weltweit riesigen Schuldenberges sein, dann sind Aktien ohnehin die weitaus bessere Alternative.

Viel spricht dafür, dass die politisch Verantwortlichen über eine lang anhaltende Phase mit negativen Zinsen versuchen werden, die drückende Schuldenlast in den nächsten Jahren zu verringern. Das würde auch jüngste Berichte erklären, wonach Zentralbanken als Käufer an den Aktienmärkten auftreten.

Leichter gesagt als getan

Drittens gibt es erste konzertierte Bemühungen, bei der Debatte um eine Lösung der Schuldenkrise in Europa den Fokus weg vom Sparen auf mehr Wachstumsförderung zu legen.

Das ist vermutlich leichter gesagt als getan. Gleichwohl denke ich, dass die jüngste Änderung in der Rhetorik auf Seiten der europäischen Staats- und Regierungschefs von erheblicher Bedeutung ist.

Suche nach dem Notausgang

Und die sollte keineswegs als Abkehr Europas vom Prinzip einer soliden Wirtschaftspolitik missverstanden werden, sondern ist vielmehr der Erkenntnis geschuldet, dass die Wähler nicht länger bereit sind, einen Anstieg der Arbeitslosigkeit hinzunehmen, unter der vor allem Europas Jugend leidet.

Wir haben es hier vielmehr mit dem Versuch zu tun, einen neuen «Notausgang» zu einer tragfähigeren Haushaltspolitik zu finden. Auch die in Deutschland in wenigen Monaten anstehenden Bundestagswahlen lassen vermuten, dass die grösste Volkswirtschaft Europas ihre Anstrengungen zur Belebung der Wirtschaft verstärken wird.

Kalte Schulter

Überall auf der Welt meldet sich das Wachstum zaghaft zurück. Europa könnte sich diesem Trend schon im nächsten Jahr anschliessen.

Eng hiermit verbunden ist die sich zunehmend durchsetzende Erkenntnis, dass viele Unternehmen aus Europa zur weltweiten Spitze gehören. Global investierenden Anlegern wird immer stärker bewusst, dass sie es sich nicht länger leisten können, einigen der international führenden, in Europa notierten Unternehmen die kalte Schulter zu zeigen.

Wie ein Patient im Krankenhaus

Die jüngsten Schwankungen an den Aktienmärkten sind einmal mehr eine typische, wenn auch völlig irrationale Reaktion auf im Grunde genommen gute Nachrichten. Ohne Zweifel wird sich die Weltwirtschaft von den geldpolitischen Stimuli in Form quantitativer Lockerungsmaßnahmen entwöhnen müssen.

So wie sich ein Patient im Krankenhaus langsam von einer schweren Krankheit erholt. Dass die Dosis der quantitativen Lockerung nun Schritt für Schritt verringert wird, ist die logische Folge eines nachhaltigeren Wachstums in den kommenden Jahren.

Unausweichliche Korrekturen

Dieses Wachstum wird niedrig bleiben und der Abbau der weltweit hohen Staatsverschuldung ein langwieriger Prozess sein, der einem stärkeren Wirtschaftswachstum im Wege steht. Das heißt aber nicht, dass Anleger aus Europa-Aktien flüchten sollten – ganz im Gegenteil.

Die in nächster Zeit bevorstehenden unausweichlichen Korrekturen sollten sie als gute Gelegenheit betrachten, ihre Bestände auszubauen. Mögen die Medien Europa ruhig weiter für tot erklären. Ich als Anleger halte dem entgegen: Lang lebe Europa!

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