Das Denken in Szenarien sei besser als das Beiziehen von «Worst Cases», sagt Wolfgang Kröger, Professor und Geschäftsführer am ETH Risk Center, Zürich.

Wolfgang_Kroeger_1Herr Kröger, Mit welchen systemischen Risiken sollte sich die Schweizer Wirtschaft Ihrer Meinung nach im heutigen Umfeld prioritär auseinandersetzen?

An erster Stelle steht klar die Staatsschuldenkrise und die damit einhergehende Wirtschaftskrise. Weiter beunruhigt mich die Destabilisierung des soziopolitischen Gefüges, wie wir es in Griechenland bereits beobachten können.

Auf der politischen Ebene sehe ich einen Problemkern im Nahen Osten, der weiterhin keine stabilisierende Wirkung ausstrahlt und die Weltwirtschaft negativ beeinflusst.

Im Bereich der technischen Risiken sehe ich einen drohenden Zusammenbruch der Strominfrastruktur als grösste Bedrohung. In Europa kämpfen Länder wie Deutschland und auch die Schweiz mit Kapazitätsengpässen in ihren Stromnetzen, was alarmierend ist und grossflächige Auswirkungen auf ganz Europa haben kann. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die politische Diskussion um die Energiegewinnung, das heisst die unterschiedlichen Strategien in den einzelnen Ländern, was die Produktion von Atomstrom in Zukunft betrifft.

Kann man sich gegen systemische Risiken überhaupt mit vernünftigem Aufwand wirksam schützen?

Das ist richtig. Bevor wir über einzelne Massnahmen nachdenken, müssen wir die Charakteristiken der systemischen Risiken begreifen. Wir sind heute mit unseren Modellansätzen dazu noch nicht zufriedenstellend in der Lage. Die Forschung muss dahingehend in den kommenden Jahren noch Fortschritte machen.


«Wir entwickeln neue Ansätze für die Privatwirtschaft»


In der konkreten Umsetzung von Risikomanagement-Strategien auf Unternehmensseite müssen die Ansätze im Sinne der Resilienz flexibler, adaptiver und somit robuster werden. Das ETH Risk Center versteht seine Aufgabe genau darin, solche neuen Ansätze für die Privatwirtschaft zu entwickeln.

Hat sich der Umgang mit Risiken in den Führungsetagen unserer Konzerne seit der Finanzkrise verändert?

Meine Erfahrung im Austausch mit Unternehmensführern ist, dass man früher eher versuchte, Themen und Fragestellungen zu vereinfachen, während sich heute alle einig sind, dass man die enorme Komplexität der Materie als Ganzes zu analysieren und zu verstehen versucht. Das ist für mich eine der Erkenntnisse aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, die in der Praxis gereift ist.

Gewinnt das Denken in Krisenszenarien, das kurzfristige Risikomanagement an Bedeutung?

Das Denken in Szenarien ist auf jeden Fall besser als das Beiziehen der berühmten «Worst Cases». Denn oft ist es gar nicht möglich, den «Schlimmsten Fall» zu identifizieren. Zudem vermitteln solche Fallstudien den Eindruck, dass ein Ereignis beim Eintreten genau so ablaufen wird, wie man sich das ausdenkt.


«Der Worst Case ist eben genau nicht voraussehbar»


Doch die Erfahrung zeigt, dass der Worst Case eben genau nicht voraussehbar ist. Szenarien stellen jedoch keinen Blick in die Zukunft dar, sondern zeigen einen möglichen Weg auf, basierend auf plausiblen Erfahrungswerten.

Wie können wir das Dreieck Politik-Wirtschaft-Wissenschaft zur Bewältigung systemischer Risiken besser miteinander verzahnen?

Diese Verbindungen sind tatsächlich verbesserungswürdig, auch wenn es natürlich bereits verschiedene Schnittstellen gibt. Zwischen Wissenschaft und Industrie existieren schon verbreitet Ansätze zur gegenseitigen Befruchtung. Zur Politik suchen wir noch nach besseren Anbindungspunkten.

Alle drei Disziplinen an einem Tisch zu haben, ist natürlich das höchste und wichtigste Ziel, um der zunehmenden Komplexität und Vernetzung der Thematik gerecht zu werden.

Braucht es eine transparentere Risikoberichterstattung in den Jahresabschlüssen der Unternehmen?

Ich möchte den Blick noch von der rein unternehmerischen Sicht auf die allgemeinere, gesellschaftlichere Perzeption von Risiken lenken. Wie geht die Öffentlichkeit mit dem Risikobegriff um?


«Es besteht eine verzerrte Wahrnehmung»


Einerseits möchten sich die Menschen nicht täglich mit Risiken auseinandersetzen, andererseits besteht eine verzerrte Wahrnehmung, was zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit im Vergleich zum Ausmass eines möglichen Ereignisses betrifft. Wir sehen es unter anderem auch als unsere Aufgabe, den Risikobegriff nicht nur negativ besetzt zu lassen, sondern auch die Chancen und Gelegenheiten hinter jedem Risiko sichtbar zu machen.

Zudem werden wir das Bedürfnis der Gesellschaft nach einer scharfen und exakten Risikoeinschätzung in allen Lebenslagen nie erfüllen können, und das müssen wir auch immer wieder so vermitteln. Der Umgang mit Risiken, Konsequenzen und Eintretenswahrscheinlichkeiten bleibt auch mit den besten Rechenmodellen immer unscharf.


Das Interview führte Philipp Hallauer, Leiter KPMG Audit Comittee Institute