Er nimmt die Treppe ins Untergeschoss, grüsst links, grüsst rechts. Nennt alle mit Vornamen, Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Portugal, aus Thailand. Lacht und erhält ein Lachen zurück. Es ist echt, entspannt. Weil Hohl ein angenehmer Patron ist, weil er seine Crew respektiert, und weil er mehr als faire Löhne zahlt. Aus Überzeugung. Hohl geht weiter. Hinter Schallschutzwänden gestikulieren Roboter, pressen grüne Kunststoffteile und lassen sie in Kisten fallen, nebenan entstehen in aufwändiger Handarbeit winzige Zapfen aus blauem Silikon, zentraler Bestandteil seines Erfolgs; eine andere Maschine spuckt etwas aus, das wie weisse Schmetterlinge mit rechteckigen Flügeln aussieht. Und dann ist endlich zu erkennen, was Hohl entwickelt hat und nun herstellt. Was in hermetisch abgeriegelten Räumen von Menschen in Schutzanzügen sterilisiert, akribisch unter der Lupe kontrolliert und anschliessend verpackt wird, also das, was ihn reich gemacht hat.

Es sind Injektionssysteme für künstliche Linsen, bestehend aus 27 Teilen, zusammengesetzt kleinen Spritzen ähnlich. In die Kanülen dieser Spritzen werden die Nachfolger von Ridleys Plexiglaslinse eingeführt: zusammengelegte, extrem dünne Linsen aus Silikon oder Acryl. Durch Druck auf den Kolben gleiten die Linsen ins Auge, wo sie sich von alleine entfalten, so, wie im Frühling die Blätter aus den Knospen ihren Weg ans Licht finden. Ein technisches Wunder. Hohl hat alle Teile gezeichnet, entwickelt und getestet, wieder und wieder, sie nochmals weiterentwickelt bis zur Perfektion, allerdings nur, um sie noch weiter zu perfektionieren. Wie kann man so etwas erfinden? Welchen Hintergrund muss der dahintersteckende Geist haben, um sich zu solcher Grösse aufzuschwingen?Die Frage nach seinen Berufsplänen als Jugendlicher beantwortet Emil Hohl indirekt. Er sagt nicht: Landwirt. Oder Arzt. Oder Pilot. Er sagt auch nicht, er habe Geld verdienen wollen, um der Erinnerung an seine bescheidene Herkunft zu entfliehen, er sagt: «Ich wollte viel Freiheit.» Das hiess für ihn in einem ersten Schritt, bei Wild Heerbrugg, damals die führende Fabrik für optische Vermessungsinstrumente, eine Ausbildung als Mechaniker zu absolvieren. Hohl lernte die Grundzüge der Optik und ihre Gesetzmässigkeiten. Beschäftigte sich mit der Funktionsweise des Auges. Lernte, optische Geräte zu konzipieren und herzustellen. Darauf folgte der zweite Schritt. Emil Hohl stand vor dem Entscheid, mit dem Verdienst aus der Lehrzeit entweder ein Auto zu kaufen oder eine Reise ohne geplantes Ende zu wagen. Emil Hohl entschied sich für die Reise. Die führte ihn in die USA. 1979. «Einer der besten Entscheide meines Lebens.» Nach einem Jahr kehrte Hohl zurück, gereift, weltoffen und sprachgewandt. Bereit für eine Zukunft, für die der Kanton Appenzell zu klein war. Dritter Schritt: Hohl bildete sich weiter und absolvierte die Handelsschule. Viertens: Hohl fand Arbeit bei Oertli Instrumente, stieg auf und bereiste als Verkaufsleiter alle Kontinente. Damit war er seinem Ziel schon ziemlich nahe. Aber er war noch nicht sein eigener Herr, was er auch nicht geplant hatte.

Doch dann kam er nach Madurai. In der indischen Augenklinik erkannte Emil Hohl dank seiner Ausbildung die Mängel der Staroperation und sah, wo es anzusetzen galt. Die Wunde im Auge war zu gross. Die Rekonvaleszenz dauerte zu lange. Und entsprechend hoch war die Komplikationsrate. Hohl kehrte in die Schweiz zurück und versuchte, seine Vorgesetzten von diesen Erkenntnissen zu überzeugen. Eine Verbesserung der Operation versprach weniger Leiden, mehr Effizienz, geringeren Aufwand – und somit mehr Gewinn. Aber die Chefs hörten ihm nicht zu. Emil Hohl blieb nichts anderes als der Schritt in die Ungewissheit der Freiheit: Er kündigte und machte sich selbständig. Das war 1996.

Zwei Jahre sass Hohl in der Folge zu Hause, zeichnete und experimentierte, scheiterte und begann von vorne, recherchierte in Operationssälen, hörte sich Augenärzte an und notierte ihre Bedürfnisse. Ziel seiner Entwicklung waren Instrumente, die nur noch minimale Eingriffe ins Auge nötig machten. Die Hornhaut musste damals auf einer Länge von 11 Millimetern aufgeschnitten und nach dem Austausch der Linsen mit mehreren Stichen genäht werden. Hohl suchte nach Wegen, den Schnitt zu minimieren. Es gelang ihm.

Als Hohl den Erfolg nahen sah, wandelte er sein Gästezimmer in ein Büro um, entwickelte einen Businessplan, ging damit zur UBS und wurde abgelehnt. Liess sich nicht aufhalten, im Wissen, dass er auf dem richtigen Weg war. Und nach fünf Jahren war er soweit, dass er wieder an die internationalen Ärztekongresse reiste und seine Entwicklung anpreisen konnte. 2001.

Weitere fünf Jahre später gehört Hohl zu den führenden Anbietern im Bereich der Linseninjektionssysteme. Aus dem Einmannbetrieb in einem Nischenmarkt ist ein international tätiges Unternehmen geworden, mit stetem Vorsprung auf die Konkurrenz. Heute misst der Schnitt der Chirurgen mit 1,5 Millimetern rund achtmal weniger als früher – er misst nicht mehr als der Strich einer breiten Füllfeder. Das genügt, um die trübe Linse mit Ultraschall zu zertrümmern, abzusaugen und die neue Linse einzusetzen. «Eine Sensation», kommentiert Emil Hohl seine eigene Entwicklung, und weil diese nicht zu überbietende Einschätzung aus dem Mund eines bescheidenen Menschen kommt, muss sie auch zutreffen. Dank Emil Hohl können die Operationen nun ambulant durchgeführt werden; die Heilung ist nach ein paar Tagen abgeschlossen, Komplikationen gibt es kaum mehr.

Mittagessen. Auf der Fahrt ins Restaurant – der von Halma delegierte Gast studiert schweigend das Appenzellerland – fragt Emil Hohl von vorne nach hinten: «Stört Sie die Tasche?» Und meint die Papiertüte mit dem grossen M, die hinter dem Fahrersitz klemmt. Die Frage taucht aus dem Nichts auf. Hohl hat sich offenbar an den sauber gefalteten Sack erinnert und dabei überlegt, ob dieser dem Journalisten aufgefallen sei und was er dazu denke, ob er es seltsam finde, dass in einem BMW X6, Verkaufspreis 100 000 Franken und sonst bar aller persönlichen Gegenstände, eine Migros-Tasche auf ihren Einsatz warte? Nein, das findet der Journalist nicht seltsam. Es ist nichts als praktisch und irgendwie sympathisch. Aber er kommt zum Schluss, dass Emil Hohl ein Mensch ist, dessen Sinne wie ein Radar funktionieren, der 360 Grad seines Lebens überblickt und reflektiert. Der alle diese blinkenden Punkte auf seinem Schirm gleichermassen achtet und auf ihr Wohl bedacht ist.

«Weshalb», fragt der Vertreter der neuen Besitzer nun im Restaurant, «läuft Ihr Unternehmen so gut? Plus 50 Prozent 2012 in China, das ist doch phänomenal, aber ausgerechnet in Indien gehen die Umsätze zurück.» Er möchte das verstehen; denn er ist selbst Inder, und um diese Frage zu klären, hat man ihn schliesslich hierher geschickt, aus Mumbai, in der Economyclass, was er allerdings selbst so entschieden hat; denn 8000 Franken Preisunterschied zur Businessclass findet der Inder schlicht absurd. Er schaut aus dem Fenster Richtung Bodensee, der im Wolkendampf mehr zu erahnen als zu erkennen ist, und wartet auf die Antwort. Und nun erzählt Emil Hohl die Geschichte seiner Kooperation mit Aravind. Eines Tages war Hohl, inzwischen bereits selbständig und Chef von Medicel, wieder nach Madurai gereist. Er sah, was sich seit seinem Besuch Jahre zuvor verändert hatte: Die blinden Menschen wurden nun an einer Art Fliessband behandelt. In einer langen Reihe standen die Operationstische, auf jedem ein Patient, von den Gehilfinnen bereits für den Eingriff vorbereitet. Die Chirurgen gingen von Tisch zu Tisch, schnitten das Auge auf, saugten die ursprüngliche Linse ab und placierten die neue. Zack, zack. Eine Viertelstunde pro Patient. Um die teuren Geräte zu amortisieren, betrieb man sie Tag und Nacht, ohne Pause. Nach dem Eingriff kamen die Patienten in einen Ruheraum, und nach ein paar Stunden unter Beobachtung konnten sie bereits wieder nach Hause gehen.

Die neue Technik mit all ihren Vorzügen hatte auch hier Einzug gehalten. Und die Idee funktionierte so gut, dass Aravind Eye Care inzwischen Kliniken im ganzen Land betrieb. 250 000 Operationen führt man nun jährlich durch. Das Prinzip dabei ist dasselbe wie bei McDonalds: Stark rationalisierte Arbeitsabläufe bei gleichbleibend hoher Qualität, modernstes Equipment und ein hoher Umsatz sichern den Erfolg. Wobei Aravind, anders als McDonalds, nicht auf Gewinnmaximierung aus ist.

In Madurai spürte Emil Hohl wieder das Samenkorn in sich. «Lassen Sie uns kooperieren», sagte Hohl deshalb zum Leiter von Aravind. Sein Vorschlag: Er, Hohl, stelle sein Know-how zur Verfügung, damit die Klinik sich die beste und neuste Injektionstechnik aneignen könne, gratis und unentgeltlich, das sei sein Beitrag zum Versuch, die Welt etwas besser zu machen, als sie ist. Im Gegenzug würde die Klinik von ihm jene Bestandteile kaufen, die es für diese Technik braucht, allerdings nicht mit der üblichen Marge, wie Hohl sie von seinen anderen Kunden verlange, sondern nur mit 30 Prozent. «Noch immer genug, um Gewinn zu machen», sagt Hohl jetzt im Restaurant zu seinem indischen Gast. Und ausreichend, um ihm die Gewissheit zu geben, dass er diesen in Dunkelheit lebenden Menschen helfen könne. «Hm», sagt der Inder. «Die Menschen in meinem Land sollten Sie wie einen Gott verehren.» Seine vegetarischen Schnitzel werden kalt. Emil Hohls Fisch wird kalt.

Gut habe die Kooperation funktioniert, fährt Hohl fort, ein Glück für beide Seiten. Win-Win. Indien sei für die Medicel zu einem wichtigen Partner geworden und umgekehrt. Betrat Emil Hohl frühmorgens im Appenzellischen seine Firma, so wusste er, dass 10 000 Kilometer östlich zu derselben Zeit Menschen neue Linsen injiziert erhielten. Gratis. Dank ihm. Das machte ihm die Tage heller. Das erfüllte ihn mit Sinn. Und so sagt er denn auch: «Profit ist für mich ein Nebenprodukt.»

Aber dann, eines Tages, begannen die Inder auch jene Teile des Injektionssystems selbst zu produzieren, die man bisher von ihm gekauft hatte. Plötzlich gingen die Bestellungen zurück, plötzlich sank der Umsatz auf dem Subkontinent auf ein paar wenige Prozente. Das sei der Lauf der Dinge, sagt Emil Hohl. «Ich sehe das völlig unemotional.» Er habe sein Know-how weggegeben im Wissen um die Konsequenzen. Was soll’s? Die Kunden kommen und gehen, die Welt bleibt nicht stehen, nur damit ein Unternehmer in Appenzell Ausserrhoden sein Spiegelbild ohne schlechtes Gewissen betrachten kann.
Aber getroffen hat ihn der Umsatzrückgang in Indien trotzdem, irgendwie. Die Geschichte mit Aravind hat jedenfalls dazu beigetragen, dass er sein «Baby» 2011 verkaufte. Die Technik des kleinstmöglichen Schnittes, einst eine grossartige Innovation, ist inzwischen Allgemeingut. Und Hohl hat erkannt, dass sein Geschäft zwar noch einige Zeit weiterwachsen wird, aber dass die besten Zeiten vorbei sind. Nicht nur in Indien. Der Markt in Europa, in den USA, in Japan ist gesättigt. Das, sagt er nun zum Inder, habe er beim Verkauf an Halma auch klar dargelegt. Er habe nichts vorgetäuscht. In anderen Ländern, in China beispielsweise oder in Südamerika, steige die Nachfrage zwar noch, aber das sei keine Garantie für die Zukunft. Die langfristig ungewisse Situation habe den «gewaltigen Druck», der auf ihm als Firmeninhaber laste, entsprechend verstärkt, sagt Hohl. Die Sorge um die Arbeitsplätze. Die Sorge um die Investitionen. Zudem sei die technologische Entwicklung mittlerweile ausgereizt und eine weitere Optimierung nur noch in Nuancen möglich.

Als vor gut zwei Jahren die Anfrage kam, ob er seine Medicel verkaufe, sagte Hohl zwar zuerst Nein, zeigte sich dann aber doch interessiert. Man traf sich, und Hohl sagte nochmals Nein. Bis die Investoren ihr Gebot auf 100 Millionen erhöhten. Da brachte Emil Hohl die Ernte nach Hause.

2014 wird Hohl in Wolfhalden Schluss machen. Er wird sich nicht mehr ärgern, dass das WLAN im Haus nicht mehr funktioniert, seit der Datenverkehr über den Hauptsitz von Halma geleitet wird. Sein Problem? Nein. Und wenn in der Entwicklungsabteilung über die Materialstärke der Injektionskanülen diskutiert wird – wie viele Hundertstelmillimeter Toleranz können wir uns leisten? –, ist er nur mit einem Ohr dabei. Emil Hohl ist bereits unterwegs in sein nächstes Leben. Die Karawane muss ohne ihn weiterziehen. 100 Millionen warten.

Und, was wird er damit tun? Die Frage steht nach dem Abgang des Mannes aus Mumbai im Raum. Pause. Emil Hohl gewinnt Zeit, indem er klarstellt, dass es keine 100 sind. Da waren noch die Minderheitsaktionäre auszuzahlen, und es gab andere Verpflichtungen. Dann runzelt er die Stirn so sehr, dass die Falten rot anlaufen. Seine Zukunft ist sein Geheimnis. Nur so viel: «Ich werde mein Geld dort investieren, wo es Sinn macht.» Ein schwieriger Satz. Emil Hohl ringt sich zu einer Präzisierung durch. «Ich werde nicht – als Beispiel – Millionen den Médécins Sans Frontières überweisen. Aber etwas in der Richtung. Ich will der Gesellschaft zurückgeben, was ich von ihr profitiert habe. Doch ich will selbst mit dabei sein, will selbst sehen, was das Geld tut.» Und: Dieses Weggeben müsse ihm «Spass» machen.

Inzwischen ist es lange nach Feierabend. Die Roboter in der Fabrikation haben ihre manischen Armbewegungen eingestellt. In den Büroräumen ist es still, dafür stapeln sich zusätzliche Kisten. Einzig Emil Hohl ist noch hier. Als letzte Handlung des Tages holt er nun einen Lappen und wischt den Tisch im Sitzungsraum der Medicel. Hohl, der CEO, tut das mit Sorgfalt, hier hat es noch etwas, dort auch, er geht in die Knie, um den Blickwinkel zu verbessern. Er könnte das delegieren oder so lassen bis zum nächsten Tag, tut er aber nicht. Schliesslich fängt er vorsichtig am Tischrand die Krümel des Tages auf. Emil Hohl, der Junggeselle, der zu seinem «Baby» so sehr Sorge getragen hat. Dem nichts entgeht. Der mehr an andere als an sich selbst denkt.

Er wäre sicherlich ein guter Vater geworden.