Marco Fell, Associate Partner bei der weltweit tätigen Unternehmensberatung Synpulse, hat in einer repräsentativen Studie die Kundenerwartungen im Schadensfall untersucht und kam dabei auf äusserst spannende Erkenntnisse.


Herr Fell, in der Finanzwelt ist heute oft von der Customer Experience – also von Kundenerfahrung – die Rede. In der Versicherungsbranche ist im Schadensprozess bislang nur wenig bis gar nichts davon spürbar. Woran liegt das?

Die Versicherer haben in den vergangenen Jahren vieles ausprobiert, um näher an den Kunden zu gelangen. Diese ersten innovativen Ideen waren – naturgemäss als erster Schritt in der Kundenbeziehung – hauptsächlich auf den Vertrieb und Verkauf ausgerichtet.

Für den Kunden ist aber weniger die Ausstellung der Police oder die jährliche Prämienrechnung der entscheidende Moment in dieser Beziehung, sondern vielmehr der Schaden. Auch wenn dieser um ein Vielfaches seltener vorkommt.

Welche Erwartungen hat der Kunde an seine Versicherung im Schadensfall?

Obwohl wir uns im Zeitalter von Chatbots, Sprachassistenten und Künstlicher Intelligenz bewegen, möchte der Kunde im Schadensfall mit einem Menschen interagieren, wie unsere repräsentative Studie klar zeigt. Die Beweggründe hierfür sind offen. Es kann sein, dass er auf eine gewisse Empathie von Seiten der Versicherung baut oder hofft, dass er mit einer menschlichen Interaktion eine unmittelbare Schadenerledigung erreicht.

«Im Rahmen des Informationsflusses zwischen Kunden und Schadenabteilung gibt es Optimierungsbedarf»

Auf jeden Fall erwartet der Kunde im Schadensfall eine gute telefonische Erreichbarkeit, und zwar jederzeit und beinahe überall. Auch wenn er im Laufe des Schadens nicht mehrfach zurückgerufen werden möchte – und wenn, dann nur von derselben Person. Dies deutet darauf hin, dass es im Rahmen des Informationsflusses zwischen Kunden und Schadenabteilung Optimierungsbedarf gibt.

Warum lösen viele Kunden ihre Police auf, sobald sie einen Schadensfall hatten?

Als Hauptgründe für eine Kündigung nach einem Schaden führen die Kunden zu tiefe Leistungen oder die Ablehnung einer Schadensübernahme an. Und einen mangelhaften Kundenservice! Zusammen erhalten diese Gründe knapp zwei Drittel der Nennungen. Anzumerken dabei ist: Die Bearbeitungsdauer wurde separat erwähnt, sie zählt also nicht zum «Kundenservice».

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Kunden – zumindest in der Schweiz, auf die sich diese Umfrage bezieht – unkomplizierte Ersatzservices einer schnellen Geldauszahlung vorziehen. Sozusagen «helfende Hand statt schnelles Geld».

Kann man behaupten, dass Versicherer die Kündigungen mit ihrer Produktgestaltung provozieren oder sogar bewusst in Kauf nehmen?

Zumindest tragen die durch Versprechen geweckten Erwartungen nicht zur Zufriedenheit der Kunden bei, wenn diese im Bewährungsfall mit Verweis auf «das Kleingedruckte» dann doch nicht erfüllt werden. Oft sind die Verträge für den Laien zu umfassend und undurchsichtig formuliert, wodurch beim Kunden eine hohe Erwartung geweckt wird, die dann – aus seiner Sicht – die Versicherung im Schadensfall nicht einhält.

«Die Versicherer müssten ihr Leistungsversprechen aus Sicht des geschädigten Kunden gestalten»

Die Versicherungsbedingungen sind sicher nötig und juristisch korrekt. Aber sie sind dem Kunden nur schwer zu vermitteln, besonders in der emotionalen Situation eines Schadens. Die in der Studie erkannte Zahlungsbereitschaft für «Kulanz» deutet in die gleiche Richtung. Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen: Der Kunde erwartet, dass sich die Versicherung – zu seinen Gunsten – nicht an den Vertrag hält.

Was kann ein Versicherer tun, um eine Abwanderung der Kunden zu verhindern?

Die Studie hat gezeigt, dass die Kunden einerseits hohe Erwartungen haben, andererseits auch eine gewisse Zahlungsbereitschaft vorhanden ist. Vielleicht müssten die Versicherer vermehrt ihr Leistungsversprechen und ihre Produkte explizit aus Sicht des geschädigten Kunden gestalten. Die immer wieder aktuelle Frage nach «modularen Produkten» sollte aus dieser Perspektive beleuchtet werden.

«Dies erweitert die Möglichkeiten, dem geschädigten Kunden ein positives Schadenserlebnis zu vermitteln»

Ein weiterer Ansatz – gerade in Anbetracht des ungenügenden Kundenservice' als wichtiger Kündigungsgrund nach einem Schaden – könnten von der eigentlichen Deckung losgelöste «Services» wie schneller Ersatz oder den «persönlichen Schadenassistenten 24/7» beinhalten. Dies erweitert die Möglichkeiten, dem geschädigten Kunden ein positives Schadenserlebnis zu vermitteln und ihn zu einem glaubwürdigen Werbeträger zu machen.

Wie lässt sich eine solche Neuausrichtung umsetzen?

Tatsächlich betrifft eine solche Umstellung weite Teile. Dies geht von der Produktentwicklung über den Leistungsprozess, umfasst Kundenservice und nicht zuletzt den Vertrieb und die Hilfsmittel, insbesondere die IT. Anhand zweier Beispiele lässt sich das am Besten verdeutlichen:

  • Aufgrund einer Analyse und Priorisierung möchte ein Versicherer das Kundenerlebnis bei der Schadenmeldung verbessern und diese 24/7 ermöglichen. Eine erste Analyse zeigt, dass für einzelne Produkte bereits mit einem Drittanbieter eine Zusammenarbeit etabliert ist, die möglicherweise ausgebaut werden kann.
  • Oder ein Versicherer möchte gewisse – teure – Dienstleistungen im Schadenfall gezielter anbieten, vielleicht eingeschränkt auf «gute» Kunden oder solche, die diesen Service explizit abonniert haben.

In beiden Fällen ist eine vertiefte Analyse notwendig, welche Einheiten, Prozesse, Systeme von einer solchen Transformation betroffen wären, und was die zu erwartenden Aufwände sind.

Gerade unter dem Aspekt des Datenschutzes (Assistance) respektive des Einbezugs von Produktentwicklung, Aktuariat und Vertrieb (Services als Produkt) ist die Ausarbeitung eines über alle Bereiche abgestimmten und damit belastbaren Zielbilds «Claims Journey» unseres Erachtens zwingend.

Denn die heute oft ins Zentrum gestellte «Customer Journey» deckt die Bereiche von Verkauf bis Kündigung ab, berücksichtigt den Schaden aber höchstens am Rand. Langjährige Branchenerfahrung und die Nutzung eines Referenzmodells wie die INSURANCEINABOX® von Synpulse, erlauben es, die «Claims Journey» innert weniger Wochen zu erstellen und bereits den Umsetzungsaufwand fundiert abzuschätzen.


Marco Fell ist seit 2007 bei der international tätigen Schweizer Unternehmensberatung Synpulse. Als Associate Partner führt er den Bereich Health Insurance Schweiz und das Thema Claims Management. In der Rolle hat er mehrere Kernsystemablösungen und Prozessoptimierungsprojekte begleitet. Er hat an der ETH Zürich Physik studiert und promoviert.