Trotz dringendem Handlungsbedarf eröffnet das kürzliche Nein des Schweizer Stimmvolks zur Altersreform 2020 neue Perspektiven für Reformen in der Altersvorsorge.


Von Gil Platteau, Country Head Switzerland von Mercer Investment Solutions in Zürich

Bei einer Annahme der Altersreform 2020 wären die Säulen der Altersvorsorge miteinander gekoppelt worden. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die Sicherung der Altersvorsorge über eine politisch gesteuerte Verbindung von erster Säule und obligatorischem Teil der beruflichen Vorsorge erzielt worden wäre.

Damit wäre aber der Grundgedanke der zweiten Säule, nach welchem das Solidarwerk der ersten Säule mit den individuell angesparten Beiträgen selbstbestimmt ergänzt wird, weiter verwässert und im Vergleich zur ersten Säule geschwächt worden.

Eine solidarische Gesamtvorsorge

Aber selbst nach der Ablehnung der Vorlage durch das Stimmvolk bleibt die Politisierung des obligatorischen Teils der beruflichen Vorsorge hoch: So hat der Ständerat bei der Behandlung der Reform der Ergänzungsleistungen Ende Mai 2017 bereits eine Beschränkung des Kapitalbezugs in der zweiten Säule beschlossen. Er folgte damit dem Bundesrat, der den Bezug von Alterskapital im obligatorischen Teil (Löhne bis 84'600 Franken) verbieten will.

Die Einbindung des obligatorischen Teils der zweiten Säule in eine solidarische Gesamtvorsorge wird allerdings auch durch die Arbeitgeber selbst befördert. Die zunehmende Verschiebung von firmeneigenen Kassen hin zu Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen unterminiert die Bindung und das Engagement des Arbeitgebers für seine Belegschaft.

Lebenserwartung steigt weiter

Einerseits werden so unternehmensspezifische und eigenverantwortliche Lösungen erschwert, andererseits allfällige finanzielle Schieflagen tendenziell an übergeordnete und damit letztlich an politisch regulierte Instanzen delegiert.

Vor diesem Hintergrund dürfen gewisse gesellschaftliche und finanzwirtschaftliche Entwicklungen und sich daraus ergebende Konsequenzen auf keinen Fall ignoriert werden. Allein schon deshalb, weil die Lebenserwartung weiter steigen wird, während die Anlagerenditen weiter sinken werden.

Enorme Finanzierungslücke

Was das konkret heisst, illustriert die Studie «We’ll Live to 100 – How Can We Afford It?» des Davoser Weltwirtschaftsforums (WEF), wonach zwischen den aggregierten Sparguthaben und den erwarteten Finanzierungsanforderungen in Australien, Kanada, China, Indien, Japan, Holland, Grossbritannien und den USA eine Lücke von 70 Billionen Dollar besteht. Dies entspricht dem eineinhalbfachen der kombinierten Wirtschaftsleitung dieser Staaten. Zusammen vereinigen diese Länder 44 Prozent der Weltbevölkerung und 57 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts (BIP).

Noch beunruhigender ist die Erkenntnis, dass diese Finanzierungslücke in den acht Ländern bis ins Jahr 2050 auf 400 Billionen Dollar wachsen wird. Dies entspricht einer Zunahme von 28 Milliarden Dollar täglich – von heute bis 2050.

Dringliche Traktanden

Um die sich hieraus ergebenden Herausforderungen für Regierungen, Arbeitgebern und Privatpersonen adäquat zu adressieren, arbeitet Mercer mit Industrieexperten daran, die Pensionierung neu zu definieren.

Bezogen auf die Schweiz heisst das, die Reduktion (zu) hoher Umwandlungssätze sowie die Anpassung der technischen Grundlagen werden – gerade nach der Ablehnung der Altersvorsorge 2020 – zu noch dringlicheren Traktanden in den Stiftungsräten. Viele Pensionskassen mit überobligatorischen Leistungen haben denn auch ihre Umwandlungssätze in den vergangenen Jahren bereits gesenkt. Dieser Trend wird anhalten.

Finanzielle Stabilität

Oberstes Gebot für jede Vorsorgeeinrichtungen ist daher, die finanzielle Stabilität langfristig zu sichern. Daher gilt es, unter Berücksichtigung der aktuellen demografischen Grössen die technischen Zinssätze und Umwandlungssätze möglichst korrekt festzulegen.

Dabei sollten die Fachleute im Interesse der Versicherten und zum Erhalt des Vorsorgezwecks vor allem das Leistungsniveau überprüfen. Ob auch in Zukunft die bisherigen Leistungen ausgerichtet werden können, wird im Fokus solcher Überlegungen stehen. Kann dies durch geeignete Massnahmen nicht gewährleistet werden, sind wohl oder übel weitere Leistungsreduktionen unumgänglich.

Renditepotenzial voll erschliessen

«Es ist zentral, dass jede Vorsorgeeinrichtung einen Effort unternimmt, um das Renditepotenzial, das immer noch im Markt liegt, zu erschliessen, und nicht aufgrund komplexer Anlageentscheide die Flinte in Korn zu werfen und ganze Anlagesegmente ungenutzt zu lassen», sagt Philippe Lüthy, Leiter für Investitionen bei Mercer Schweiz.

«Je mehr eine Vorsorgeeinrichtung aus dem Markt an Rendite nach Kosten herausholt, desto höher wird die Rente sein oder das zu beziehende Alterskapital. Es ist deshalb wichtig, sich nicht einem Teil der Renditequellen zu verschliessen, nur weil der Aufwand (intellektuel und kostenmässig) höher ist», fügt Lüthy an.


Der Melbourne Mercer Global Pension Fund Index stellt dem Schweizer Pensionskassen-System im internationalen Vergleich ein gutes Rating aus, ortet allerdings einen gewissen Anpassungsbedarf. Die OAK BV sieht das System der beruflichen Vorsorge erst am Anfang einer «grösseren Wende» und zwar aufgrund des seit Jahren tiefen Zins- und Ertragsniveaus, der demographischen Entwicklung und der anhaltenden Nachfinanzierung bestehender, hoher Renten.