Vermögensverwalter sollten ihr ESG-Know-how bündeln und eine Unternehmenskultur der Nachhaltigkeit entwickeln – indem sie ihre Mitarbeitenden schulen oder Fachexperten einstellen, sagt Carmine Cammarota, Country Head Switzerland von Prometeia, im Interview.


Herr Cammarota, wie sieht die Zukunft der nachhaltigen Finanzanlage in der Schweiz aus?

Sie ist voller Möglichkeiten und entwickelt sich ständig weiter. Die Vorschriften werden an die sich ändernden Marktbedingungen und Anlegerpräferenzen angepasst. Die Schweiz ist überdies bestrebt, sich an internationalen Standards zu orientieren, wobei sie die EU stets im Auge behält.

Die Rahmenbedingungen befinden sich noch immer in der Entwicklung, und es muss noch viel Arbeit geleistet werden. Gleichzeitig brauchen die Schweizer Finanzinstitute Leitplanken. Denn es wird nicht einfach sein, all die Herausforderungen zu meistern, die unweigerlich auf jede ESG-Regulierung folgen werden.

Wie also sollen Schweizer Vermögensverwalter diesen Übergang bewältigen?

Es könnte sicherlich nützlich sein, zu beobachten, was die EU im Bereich der Nachhaltigkeitsvorschriften unternimmt, um das Beste aus dieser Gelegenheit vor unserer Haustür zu machen.

Die SFDR- und Taxonomy-Initiativen waren revolutionär, aber sie brachten auch gewisse Herausforderungen mit sich: Man denke nur an die enorme Komplexität der Daten, die Unternehmen schon bald selbst offenlegen müssen, oder die Integration der ESG-Präferenzen der Kunden in Beratungsmodelle usw.

Mit diesen Herausforderungen sehen sich Schweizer Finanzinstitute, die Niederlassungen in Europa haben, bereits konfrontiert, richtig?

Ja, genau. Alle Finanzinstitute, die der Schweizerischen Bankiervereinigung angehören (SBVg), müssen bis zum 1. Januar 2023 ESG-Präferenzen in ihre Beratungsmodelle integrieren. Was die Herausforderungen angeht, so denke ich, dass das Hauptproblem im Moment die Daten sind. Der Markt verlangt nach immer mehr Daten, die im Moment meist nicht verfügbar sind.

«Der Mangel an Daten ist dabei sicherlich nicht hilfreich»

Der Grossteil der Daten, die sich ausschliesslich auf die Selbstauskunft der Unternehmen beziehen, wird erst zwischen 2023 und 2025 verfügbar sein, während die Vermögensverwalter schon heute ESG in ihre Risiko- und Beratungsmodelle integrieren müssen. Das bereitet jede Menge Kopfzerbrechen. Die Frage ist: Wie lassen sich die ESG-Präferenzen der Kunden erfassen?

Welche ESG-Analysen und -Metriken sollen aus den Tausenden von verfügbaren Daten ausgewählt werden, um die Nachhaltigkeit von Kundenportfolios zu bewerten? Wie kann dies alles zum bestmöglichen Service für die Kunden führen?

Das sind alles Fragen, die die Vermögensverwalter so schnell wie möglich beantworten müssen, und der Mangel an Daten ist dabei sicherlich nicht hilfreich.

Was folgern Sie daraus?

Wir brauchen Daten, aber auch digitale Werkzeuge. Softwareanbieter haben begonnen, ESG-Funktionen in ihre Lösungen zu integrieren, aber sie befinden sich noch in einem frühen Stadium. Eine weitere Komplexität liegt auf der Ebene des Front-Office.

«Diese Veränderungen werden das gesamte Beratungserlebnis erheblich beeinflussen»

Berater müssen lernen, wie sie auf die Nachhaltigkeits-Präferenzen ihrer Kunden eingehen, ESG-Analysen interpretieren und diese effektiv an die Kunden kommunizieren können, die ihrerseits aufgeklärt werden müssen, und die mit ihren Investitionen verbundenen Nachhaltigkeitsrisiken verstehen müssen.

Diese Veränderungen werden das gesamte Beratungserlebnis erheblich beeinflussen. Und das ist nur ein Teil des Gesamtbildes: Meiner Wahrnehmung nach herrscht auf dem Schweizer Markt auch ein gewisser Mangel an Kompetenzen und Know-how im Bereich der Nachhaltigkeit, und zwar nicht nur im Front Office, sondern in allen Funktionen der Finanzinstitute: Risikomanagement, Compliance, Beratung.

Was würden Sie in diesem Zusammenhang den Schweizer Vermögensverwaltern empfehlen?

Selbst wenn die Zeiten nun herausfordernd erscheinen mögen, sehen wir für Schweizer Vermögensverwalter mehr Chancen als Risiken. Um ihre Führungsposition zu sichern, sollten sie diese Chance nutzen und eine langfristige, nachhaltige Strategie entwickeln.

«Vermögensverwalter sollten ihren Fokus auf die Integration von ESG-Präferenzen verstärken»

Der EU-Ansatz verleitet die meisten europäischen Finanzdienstleister dazu, eine abwartende Haltung einzunehmen, mit dem Risiko, einfache oder minimale Lösungen in einem sehr kurzen Zeitrahmen umsetzen zu müssen, was möglicherweise zu einem Reputationsrückschlag führt. Schweizer Vermögensverwalter sollten dies vermeiden, indem sie proaktiv handeln und ihren Fokus sofort auf die Integration von ESG-Präferenzen in ihre Beratungsmodelle bis zur Frist im Januar 2023 verstärken.

Was wären die ersten Schritte?

Das neue nachhaltigkeitsbasierte Beratungsmodell, das mit dem wachsenden Bewusstsein der Kunden in Einklang stehen muss, wird sein wahres Potenzial erst im Laufe der Zeit entfalten, wenn mehr Daten verfügbar sind. Darüber hinaus sollten Vermögensverwalter ihr ESG-Know-how bündeln und gleichzeitig eine Unternehmenskultur der Nachhaltigkeit entwickeln, indem sie ihre Mitarbeiter intern schulen oder Fachexperten einstellen.

Dies muss mit der Einführung digitaler Tools einhergehen, die ESG-Funktionen in die alltäglichen Arbeitsabläufe integrieren, damit das Know-how in die täglichen Aktivitäten auf allen Ebenen der Organisation einfliessen kann. Daher ist es ebenso wichtig, den richtigen Partner zu finden, der in der Lage ist, diese digitalen Anforderungen zu erfüllen.

Meiner Meinung nach kann dieser Ansatz Finanzinstituten helfen, alle ESG-Herausforderungen im Voraus zu bewältigen, und er kann eine solide Grundlage für den Aufbau eines Nachhaltigkeitsrahmens für die Zukunft des Unternehmens und der Beratungsbranche bilden.