Das Leben ist ein Spiessrutenlauf: Die Sorge über die Reaktion der Welt auf unsere Fehltritte und Unzulänglichkeiten hält viele Menschen auf Trab. Dabei ist der Stress unnötig, findet Ozan Varol.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Englisch auf dem Blog von Ozan Varol.


Am Anfang dieses Schuljahres habe ich einen scheinbar radikalen Schritt gewagt.

Für Jus-Professoren – vor allem für die Männer unter ihnen – ist es üblich, den Unterricht im Anzug zu bestreiten. Zu Beginn meiner Karriere als Professor wollte ich aussehen wie alle anderen und habe das ebenfalls so gehandhabt. Zudem hatte ich noch keine Anstellung auf Lebenszeit und befürchtete, eine Abweichung von der Norm würde den Eindruck erwecken, ich sei ein Faulenzer.

Reden mit zugeschnürtem Hals

Aber richtig wohlgefühlt habe ich mich im Anzug nie. Schliesslich ist es nicht ganz einfach, stundenlang zu reden, während einem die Krawatte den Hals zuschnürt und man sich durch mehrere Stoffschichten schwitzt.

Demenstprechend fing ich an, die Uniform zu hinterfragen, sobald ich meine Stelle auf sicher hatte. Wochenlang überlegte ich hin und her. «Was werden die Kollegen denken? Nehmen mich die Studenten ohne Krawatte noch ernst?»

Dann traute ich mich einfach. Was passierte, war eigentlich im Vornherein klar: Nichts.

Niemand sagte ein Wort.

Jeder auf seiner Bühne

Ich bin mir sicher, dass einige Kollegen und Studenten den Unterschied bemerkt haben, aber es schien sie nicht zu interessieren.

Jeder von uns sieht die Welt als seine persönliche Bühne, auf der wir die Hauptrolle spielen. Wir glauben, jeder Fehltritt, jeder Fauxpas im Gespräch, jede individuelle Merkwürdigkeit würde bemerkt und von den vielen Kritikern um uns herum registriert. Es fühlt sich an, als wären wir eine schlechte Kopie von Meryl Streep und hätten ständig eine Kamera im Gesicht.

Der Scheinwerfer-Effekt

Das ist normal: Wir sehen die Welt durch unsere eigenen Augen. Weil wir so nah an unseren eigenen Schwächen sind, sehen wir sie wie mit der Lupe.

In der Forschung nennt man das den Scheinwerfer-Effekt. Neil Pasricha, der Autor des Buches «You Are Awesome», hat diesem Effekt ein ganzes Kapitel gewidmet. Man versteht darunter das Gefühl, «in viel stärkerem Ausmass bemerkt, angeschaut, beobachtet und – wichtig – beurteilt zu werden, als dies tatsächlich der Fall ist».

Er zitiert eine Studie der Universität Cornell, in der Studenten beurteilen mussten, was andere von ihrem Aussehen, ihren sportlichen Leistungen und ihrem Abschneiden in einem Videospiel hielten. Die Teilnehmer «überschätzten durchwegs, wie sehr ihre Erfolge und Misserfolge den Beobachtern ins Auge stachen.»

Keiner schaut hin

Mit anderen Worten: Den Leuten fallen unsere Fehler weit weniger auf, als wir denken. Sie sind viel zu sehr mit ihren eigenen Mängeln beschäftigt, um diejenigen von anderen zu bemerken.

Trotzdem benehmen wir uns, als stünden wir allein im Scheinwerferlicht. Wir gehen auf Nummer sicher. Wir passen uns an, anstatt anzuecken. Anstatt anzupacken, setzen wir auf Fingerspitzengefühl. Wir stehen scheu in der Ecke, statt zu tanzen.

Dabei können wir uns tatsächlich benehmen, als sähe uns niemand – es schaut nämlich keiner hin.


Ozan Varol hat als Raketenwissenschaftler angefangen, inzwischen ist er Rechtsprofessor und Bestseller-Autor. Hier können Sie gratis sein Buch «The Contrarian Handbook: 8 Principles for Innovating Your Thinking» herunterladen und seinen wöchentlichen Newsletter abonnieren.