Die grösste Stärke eines CEO ist immer auch seine grösste Schwäche. Warum einen dieselben Charaktereigenschaften an die Spitze und danach zu Fall bringen können.


Von Bernhard Böttinger


Scheinbar ständig lesen wir schockierende Schlagzeilen über Unternehmens-Skandale, ausgelöst von «Narzissten» oder gar «Psychopathen» im Chefsessel. Der Diesel-Skandal bei VW, der Untergang von Enron und Lehman Brothers, der Übernahmeversuch von Porsche auf die 14-mal grössere VW oder unlängst die Ereignisse bei Raiffeisen lassen uns fragen, warum eine einzige Person ein renommiertes Unternehmen nachhaltig erschüttern kann.

In all diesen Beispielen haben vormals gefeierte Star-CEOs trotz aller Kontrollmechanismen ethische, rechtliche oder wirtschaftliche Schranken durchbrochen. Sie haben dabei nicht nur ihre Unternehmen in eine existenzielle Krise geführt, sondern auch ihre eigene Reputation unwiderruflich zerstört.

Tödliche Dosis

Bei einem genauen Blick auf diese publikumswirksamen Fälle, tritt etwas Erstaunliches zum Vorschein: Genau dieselben Eigenschaften, die zu Beginn einer Karriere förderlich sind und dem beruflichen Aufstieg dienen, verursachen später den tiefen Fall.

Wovon sprechen wir? Die Aufsteiger sind häufig ehrgeizig, mutig, charismatisch, inspirierend, risikofreudig, testen die geltenden Grenzen aus – und sind genau deshalb erfolgreich und Vorbild für andere. Aber wie bei einem Medikament kommt es dabei auf die richtige Dosis zum richtigen Zeitpunkt an. Die richtige Dosis heilt, die falsche Dosis tötet.

Übersteigertes Selbstvertrauen

Hält der Erfolg längere Zeit an, steigen tendenziell Selbstvertrauen, Risikobereitschaft, Statusbewusstsein und damit das Gefühl der eigenen Macht und Unangreifbarkeit. Dies beschert den Managern treue Gefolgschaft.

Selbst Manager mit einem robusten Wertesystem können Gefahr laufen, die Bodenhaftung zu verlieren. Im Extremfall passiert Folgendes, wenn diesen Überfliegern ihr Erfolg zu Kopf steigt:

  • Mut wird zu Übermut, was zu exzessivem Risikoappetit führt
  • Selbstvertrauen wird zu Selbstüberschätzung
  • Das eigene Ego, die Freude an der Machtausübung und der Wunsch nach immer mehr Prestige werden wichtiger als der Unternehmenserfolg – das Wohl des Unternehmens, der Mitarbeiter und der Kunden geht aus dem Blickfeld verloren

Reiten auf der Erfolgswelle

Gleichzeitig fällt oft ein wichtiges Korrektiv aus: Der engere Führungskreis hat einen inhärenten Interessenkonflikt. Es bestehen starke finanzielle Anreize, so lange wie möglich auf der Erfolgswelle des Vorgesetzten zu reiten. Offenes Feedback wird rar, die Obrigkeitshörigkeit nimmt zu und selbst offensichtliche Fehlentscheidungen werden häufig widerspruchslos ausgeführt.

Lässt sich diese Entwicklung mit ihren teilweise dramatischen Folgen verhindern? Und wenn ja, wie?

Grosses Informationsgefälle

Es ist zu bezweifeln, dass Überwachungs- und Compliance-Massnahmen wirksam wären - die oben erwähnten Fälle zeigen, dass interne Kontrollen kaum greifen. Zu gross war das Informationsgefälle zwischen den Akteuren und ihren Kontrolleuren und zu stark wirkten die persönlichen Interessen der Beteiligten.

In meiner langjährigen Arbeit mit Führungskräften habe ich zwei entscheidende Elemente für eine wirksame Gegenstrategie identifiziert:

Erstens braucht es die Offenheit der Führungsperson selbst, sich diese Thematik bewusst zu machen und sich ihr zu stellen. Unabhängig vom eigenen Erfolg gilt es, sich selbst periodisch zu reflektieren und proaktiv die «ungeschminkte Wahrheit» hören zu wollen.

Zweitens braucht die Führungsperson mindestens eine Person, die die Rolle des konstruktiven Korrektivs erfolgreich wahrnehmen kann. Doch es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der das Vertrauen der Führungskraft besitzt, intellektuell unabhängig ist und den Mut hat, auch mal herausfordernd zu sein – selbst wenn das bedeuten kann, in Ungnade zu fallen.

Mittelalterliche Lösung

Die Herrscher im Mittelalter hatten eine elegante Lösung: Der Hofnarr mit seiner sprichwörtlichen «Narrenfreiheit» durfte – wenn auch in Humor verpackt – dem Herrscher den Spiegel vorhalten und eine abweichende Einschätzung der Dinge aussprechen.

Wer kommt heute für diese herausfordernde Funktion in Frage?

  • Familie und Freunde wären naheliegend. Wegen ihrer emotionalen Nähe oder fehlendem Verständnis fürs Geschäft sind sie aber selten die Richtigen. Nicht umsonst heisst es, «die schlimmsten Feinde sagen uns eher die Wahrheit als unsere Freunde».
  • Die unmittelbaren Mitarbeiter und Kollegen unterliegen derweil einem inhärenten Interessenkonflikt. Eine Unternehmenskultur, in der offenes Feedback gelebt wird und Fehler erlaubt sind, ist hier entscheidend.
  • Externe Mentoren können durch ihre Erfahrung und Unabhängigkeit objektives Feedback geben und somit einen wirksamen Beitrag leisten.

Bernhard Böttinger hat sich nach seiner Karriere als Partner für Financial Services in führenden Beratungsunternehmen als Berater im Bereich «Leadership» spezialisiert. Er unterstützt seine Kunden bei strategischen Reviews und im Coaching und Mentoring von Führungskräften und Teams. Hierbei schöpft er aus seiner breiten Führungserfahrung (er hat selber 60 Mitarbeitende geführt) und der ICF-zertifizierten Ausbildung «Coaching for Leadership».