Das Finanzwesen gilt als Männerbastion. Doch nun haben Frauen an der Spitze der grössten Schweizer Banken und Versicherer überraschend Boden gut gemacht, wie eine neue Studie zeigt. Michel Roserens vom Stellenvermittler Russell Reynolds erklärt finews.ch, was die Firmen im Lead auszeichnet.


Herr Roserens, einer neuen Erhebung von Russell Reynolds Associates zufolge ist der Frauenanteil in den Geschäftsleitungen von Schweizer Bluechip-Unternehmen von 13 auf 19 Prozent gestiegen. Das klingt nicht nach sehr viel, warum ist dies bedeutsam?

Dies ist eine signifikante Steigerung und führt zu einer wesentlichen Veränderung in der Struktur der Geschäftsleitungen. Seit Anfang 2022 ist der Frauenanteil hier um 46 Prozent gestigen. Allein im letzten Jahr waren von zehn neuen SMI-Topkadern deren vier weiblich. Das sind positive Veränderungen, die der Schweizer Wirtschaft und ihren Unternehmen letztlich gut tun.

Unter den SMI-Finanzfirmen schneiden namentlich Zurich, Partners Group und Credit Suisse beim Frauenanteil an der Spitze relativ gut ab, während Swiss Life, Baloise und Helvetia hinterherhinken. Das ist eine Momentaufnahme. Machen die Vorreiter tatsächlich etwas besser als die Nachzügler?

Die Vorreiter sind das Thema früher und dezidierter angegangen, letztlich auch auf Grund der globalen Entwicklung. Das Thema Diversität stand in internationalen Konzernen früher auf der Agenda als in der Schweiz. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Nachzügler in den kommenden Jahren ebenfalls Fortschritte erzielen werden und dass sich der Abstand verringern wird.

Roserens 500

Michel Roserens, Russell Reynolds Associates (Bild: Linkedin)

Es gibt einen Geschlechter-Rrichtwert von 20 Prozent, den Gesellschaften gemäss Schweizer Aktienrecht bis 2026 in Verwaltungsräten respektive im Jahr 2031 im Management erreichen müssen. Wird es eine Torschlusspanik geben?

Das glaube ich nicht. Die grosse Mehrheit der Unternehmen werden die Richtwerte vorzeitig erfüllen. Wir haben letztes Jahr grosse Fortschritte gesehen.

«Im europäischen Vergleich war die Schweiz letztes Jahr noch das Schlusslicht»

Das Thema Diversität wird in allen börsenkotierten Unternehmen ernst genommen, sie werden den Geschlechter-Richtwert erfüllen wollen, von sich aus und ohne Druck von aussen.

Wie präsentieren sich diese Richtwerte im internationalen Vergleich? Die Schweizer Finanzfirmen sind ja auf das Kapital ausländischer Institutioneller angewiesen, die ihrerseits immer strengeren Governance-Anforderungen folgen müssen.

Im europäischen Vergleich war die Schweiz letztes Jahr noch das Schlusslicht. Dank dem grossen Fortschritt dieses Jahr haben wir die Niederlanden, Spanien und Italien überholen können. Das ist ein schöner Fortschritt.

Russel Reynolds hat in der Studie nur Unternehmen im SMI- und SMIM-Börsenindex erfasst. Bei den hiesigen Inlandbanken etwa ist die Frauenquote an der Spitze wesentlich tiefer. Lässt sich das überhaupt aufholen?

Wir sehen in der Schweiz und auch in Deutschland, dass kleinere und regionalere Unternehmen generell tiefere Quoten haben.

«Es braucht eine Verbesserung der Rahmenbedingungen»

Aus diesem Grund ist ihre Beobachtung nicht erstaunlich. Wir wissen aber auch, dass Inlandbanken einen starken Fokus auf Kandidatinnen setzten. Wir erwarten deshalb in diesem Segment mittelfristig mehr Frauen in den Geschäftsleitungen.

Um die gesetzlich geforderten Quoten zu erreichen, fordern manche Vordenkerinnen und Vordenker, es dürften mehrere Jahre nur noch Frauen befördert werden – zumeist Männern werfen dies ihren Arbeitgebern heute schon vor. Braucht es diese extremen Massnahmen?

Die Fakten sagen etwas anderes. Letztes Jahr wurden mehr als 60 Prozent der offenen Geschäftsleitungspositionen im SMI durch Männer besetzt. Die Mehrheit der Beförderten sind in diesem Fall Männer.

Diverse andere Studien zeigen, dass aus verschiedenen Gründen die Luft für Frauenkarrieren ab dem höheren Kader dünn wird. Wie lässt sich diese Lücke künftig überwinden?

Dazu braucht es eine Vielzahl von Massnahmen, wie zum Beispiel eine Verbesserung der generellen Rahmenbedingungen für weibliche Führungskräfte.


Michel Roserens ist seit 2018 als Consultant für den internationalen Stellenvermittler Russell Reynolds Associates in Zürich tätig, wo er Kunden aus der Finanzindustrie betreut. Zu seinen Karrierestationen zählen die Privatbank Julius Bär sowie das Zürcher Investmenthaus Vontobel, wo er über vier Jahre den Bereich Investor Relations leitete.