Bei einer Anlagestrategie sollten politische Erwägungen nicht ausschlaggebend sein, sagt Karen Ward, Chef-Anlagestrategin von J.P. Morgan Asset Management, im Interview mit finews.ch. Und sie erklärt, weshalb Europa noch für eine positive Überraschung sorgen könnte.


Frau Ward, wie werden sich die Zinsen ihrer Meinung nach entwickeln?

Die Zentralbanken sind recht zuversichtlich, dass das Ziel einer Inflationsrate von 2 Prozent im Sommer erreicht wird. Deswegen werden sie dann beginnen, die Zinsen moderat zu senken. Wir werden allerdings im Vergleich zu vor der Pandemie immer noch deutlich höhere Zinsen haben.

Interessanterweise haben wir in den vergangenen Jahren damit gelernt umzugehen. Vor allem die US-Wirtschaft ist diesbezüglich beeindruckend. In Europa führe ich die Wachstumsschwäche auf die Teuerung, die Energiekrise und den schwachen Welthandel zurück und nicht unbedingt auf die höheren Zinsen.

Welche Lehren gilt es daraus zu ziehen?

Zum einen beeindrucken wie erwähnt die USA mit ihrer Widerstandsfähigkeit. Die US-Haushalts- und Unternehmenssektoren befinden sich also in einer guten Ausgangslage. Zum anderen sind wir in unserer Branche zwar alle mit den Zentralbanken und ihrer Geldpolitik beschäftigt, aber Resilienz entsteht auch durch Fiskalpolitik.

«Im Allgemeinen sind Nullzinsen nicht gut für die Vermögenspreise, da sie eine ungesunde Wirtschaft widerspiegeln»

Sie spielen eine weitaus wichtigere Rolle, wenn es darum geht, das Wachstum anzukurbeln – und endlich geben die Regierungen überall wieder Geld aus. Die Entwicklung wird vor allem für Europa interessant zu beobachten sein.

Welche Auswirkungen haben die Zinssenkungen auf Aktien und Anleihen?

Lassen Sie mich zunächst auf eine Aussage eingehen, mit der ich mich überhaupt nicht einverstanden erklären kann: «Nullzinsen waren sehr gut für die Vermögenspreise». Nullzinsen waren grossartig für den S&P und Technologie- und Wachstumsaktien, nicht aber für europäische Wertpapiere, Anleiherenditen oder Aktien von Schwellenländern.

Im Allgemeinen sind Nullzinsen nicht gut für die Vermögenspreise, da sie eine ungesunde Wirtschaft widerspiegeln. Leicht höhere Zinsen stimmen mich daher optimistischer in Bezug auf die mittelfristigen Aktienkurse. Darüber hinaus können Anleihen ihre ursprüngliche Funktion wieder erfüllen, nämlich ein schönes und stetiges Einkommen zu erzielen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich nicht glaube, dass die zu erwartenden Zinssenkungen für die Anleihen- und Aktienkurse von Bedeutung sein werden. Wir befinden uns in einer recht guten Position für diversifizierte Portfolios.

Finanzaktien performten im vergangenen Jahr sehr gut an der Börse. Wie wird sich dieser Trend 2024 fortsetzen? Ist es eine gute Zeit zum Investieren?

Erstens würde ich investieren. Zweitens preist der breite Markt ein günstiges Konjunkturszenario ein: Das Wachstum ist widerstandsfähig, und es wird mit einer niedrigeren Inflation und niedrigeren Zinsen gerechnet.

«Oft entstehen Chancen in jenen Bereichen des Marktes, in denen die Erwartungen nicht zu hoch sind»

Der Markt erholt sich weiter. Anleger müssen aus diesem Grund in diesem Jahr mit einer gewissen Volatilität rechnen. Diese ist jedoch unvermeidlich. Anleger, die darauf warten, dass sie sich auf der sicheren Seite befinden, werden ihr Leben lang warten.

Und wo sehen Sie Chancen im Markt?

Oft entstehen Chancen in jenen Bereichen des Marktes, in denen die Erwartungen nicht zu hoch sind. Derzeit trifft dies vor allem auf europäische Aktien zu. Europa war mit einem schrecklichen Kostenschock konfrontiert. Ich denke, dass wir dieses Jahr von der Erholung in Europa überrascht sein werden und die Anleger auf diese Wertpapiere umschwenken.

Der Markt für Gewerbeimmobilien in verschiedenen Ländern befindet sich in einer schwierigen Phase. Wie nehmen Sie Immobilien als Anlageklasse wahr?

Gewerbeimmobilien waren und sind ein wesentliches Risiko, wenn auch deutlich weniger als im Vorjahr. Die Probleme bei den Gewerbeimmobilien sind sowohl konjunkturell als auch strukturell bedingt. Zum einen wurden nicht mehr so viele Büroflächen benötigt. Zum anderen waren die Zinsen für Bürogebäude deutlich höher.

Viele Unternehmen nehmen jedoch zunehmend die Vorteile von einer Rückkehr ins Büro wahr und es wird erwartet, dass die Zinsen sinken. Mittelfristig bleiben Immobilien ein wichtiger Baustein für ein diversifiziertes Portfolio, auch weil es eine Anlageklasse ist, die sich gut in einem moderat höheren Inflationsumfeld schlägt.

Was sind Ihrer Meinung nach einige thematische Anlagethemen, die überbewertet sind? 

Ich würde nicht sagen, dass Künstliche Intelligenz (KI) überbewertet ist, aber ich glaube, wir müssen achtsam sein, insbesondere wenn man an frühere «Tech-Wunder» denkt. Wir neigen dazu, zu überschätzen, wie sehr sich die Technologie auf die gesamte wirtschaftliche Produktivität auswirken wird.

«Die grösste Herausforderung erweist sich oft als das beste Anlagethema»

Es ist auch äusserst schwierig, die Perlen im Technologiesektor ausfindig zu machen. Ich persönlich würde den S&P heute nicht passiv kaufen, weil er sehr anfällig für Enttäuschungen bei Einzelaktien ist.

Und welche thematischen Anlagethemen sind unterbesetzt?

Der grüne Wandel ist sicherlich unterbesetzt. Dies ist auf den politischen Rückzug und auch auf den Widerstand der Verbraucher zurückzuführen. Ich glaube aber, dass die Weltwirtschaft einen Übergang zu erneuerbaren Energien benötigt. Dies zu bewerkstelligen, stellt eine der grössten Herausforderungen dar.

Doch die grösste Herausforderung erweist sich oft als das beste Anlagethema. Daher sind erneuerbare Energien meiner Meinung nach als berechtigter Megatrend im Vergleich zu KI überzeugender. Aber ich glaube, ich stehe damit ziemlich alleine da.

Worauf achten Sie bei dem Aufbau einer Anlagestrategie, insbesondere unter Berücksichtigung aktueller politischer Ereignisse?

Ein häufiger Fehler von Anlegern ist es, dass sie der Politik zu viel Gewicht beimessen. Politiker sagen vieles, um aufzufallen. Oft kommt es dann aber am Schluss anders raus. Es wäre daher ein Fehler, eine Portfolio-Verteilung aufgrund politischer Ergebnisse zu verschieben. Vergessen wir nicht, dass sich bis zu den US-Wahlen am 5. November 2024 noch vieles ändern kann.

Was ist das grösste Risiko, das die Anlagestrategie beeinflussen könnte?

Die Märkte wurden in den vergangenen drei Jahren von der Inflation geprägt. Nun ist die Erwartung, dass diese hinter uns liegt. Die grösste Gefahr ist, dass sich diese Erwartung als falsch erweist.


Karen Ward ist Managing Director und seit 2017 Chief Market Strategist EMEA bei J.P. Morgan Asset Management. Zuvor war sie Vorsitzende des Rates der Wirtschaftsberater des Schatzkanzlers (Chancellor of the Exchequer). Darüber hinaus war sie viele Jahre bei der britischen Bank HSBC im Bereich Global Banking and Markets tätig, zuletzt als Chief European Economist. Sie begann ihre Karriere bei der Bank of England, wo sie den geldpolitischen Ausschuss unterstützte. Sie erwarb ihren Bachelor-Abschluss in Volkswirtschaft an der University of Surrey und ihren Master mit Auszeichnung in Volkswirtschaft an der University College London.

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.65%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    18.58%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    28.17%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.07%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.53%
pixel