Glauben Sie wirklich, die Schweiz sei ein Erfolgsmodell, ein europäischer Spezialfall mit einer starken Wirtschaft? Walter Wittmann hat nachgerechnet.


Walter-Wittmann-tvWalter Wittmann ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Freiburg. 2007 veröffentlichte er «Der nächste Crash kommt bestimmt», in dem er viele Ereignisse vorwegnahm. Anfang 2010 erschien das prophetische «Staatsbankrott», und 2012 kam «Superkrise» über die Schwere der laufenden Krise. Zuletzt erschien «Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat».


In den Massenmedien ist immer wieder vom Schweizer Erfolgsmodell die Rede. Aus der Wirtschaft ertönt der Ruf, man solle «das Erfolgsmodell nicht gefährden.» Diese Forderung stammt von jenen, die neue Regulierungen rundweg ablehnen, vor allem im Finanzsektor. Sie setzen auf die Selbstregulierung, die sich angeblich bewährt habe.

Zu den herausragenden Elementen des Erfolgsmodells gehören unter anderem:

  • eine hohe wirtschaftliche Dynamik (Wirtschaftswachstum),
  • das hohe Wohlstandsniveau,
  • der flexible Arbeitsmarkt,
  • geringe Arbeitslosigkeit,
  • niedrige Steuern,
  • gesunde Staatsfinanzen,
  • politische Stabilität,
  • persönliche Sicherheit
  • und der Finanzplatz.

Dieser gilt dank Bankgeheimnis und (Rechts-)Sicherheit als sicherer Hafen für Vermögen aus der ganzen Welt.

Die Schweiz als eine «Insel der Glückseligkeit» in einer turbulenten Welt: Wer nicht müde wird, das Erfolgsmodell zu feiern, der macht sich keine Gedanken darüber, ob das einer objektiven Analyse standzuhalten vermag. Eine kritische Haltung, die nach Schwächen sucht, ist im Interesse einer realistischen Politik aber unbedingt erforderlich.

Die jahrhundertelange Erfolgsgeschichte in Bezug auf die wirtschaftliche Dynamik ging mit dem Trendbruch von 1974/76 abrupt zu Ende. Zwischen 1974 und 1983 stagnierte die Wirtschaft per paldo. Danach ging es bis 1990 aufwärts. Es folgte die Wachstumskrise der ersten Hälfte der Neunzigerjahre. Insgesamt gelten sie als verlorenes Jahrzehnt.

Durchschnittswachstum: lahme 1,5 Prozent

Zwischen 2001 und 2003 herrschte Rezession, danach ging es bis 2008 aufwärts. Nach einer schweren Rezession 2008/09 erholte sich die Wirtschaft, um ab 2012/13 zu erlahmen.

Die Wachstumsrate des (realen) Bruttoinlandprodukts betrug zwischen 1973 und 2010 durchschnittlich nur noch 1,5 Prozent, verglichen mit 4,4 Prozent zwischen 1950 und 1973.

Pro Kopf wuchs das reale BIP im gleichen Zeitraum um 3,1 Prozent – nach 1973 waren es noch 0,9 Prozent pro Jahr.

Fazit: Die Schweiz zeichnet sich seit 1973 durch eine eklatante Wachstumsschwäche aus. Der Wohlstand kam nur noch auffallend schwach voran. Das liegt unter anderem an der niedrigen Arbeitsproduktivität.

Tiefe Steuern, doch falsche Steuern

Die Schweiz hat zwar niedrige Steuern, aber: Nur sie besteuert den Eigenmietwert und erhebt – nicht berechtigte – Sondersteuern auf den Kapital- und Vermögensverkehr. So die Emissionsabgabe und die Stempelsteuer. In der EU wurden diese Steuern 1992 abgeschafft.

Mit einer niedrigen öffentlichen Verschuldung am BIP ist es nicht getan. Dafür hat die Schweiz seit Mitte der Siebzigerjahre Unterhalt und Ausbau der Infrastruktur nachhaltig vernachlässigt. Das wirkt sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Engpässe sind entwicklungshemmend und mit sozialen (Stau-)Kosten verbunden.

Risiko Demokratie

Die Schweiz ist zwar politisch stabil. Ihr Konkordanzsystem hat aber seit den Siebzigerjahren marktwirtschaftliche Reformen be- und verhindert. So ist es nicht gelungen, einen Binnenmarkt mit nationalen Freizügigkeiten zu schaffen, und: Die direkte Demokratie ist zu einem kaum kalkulierbaren Risiko geworden, wie Volksinitiativen der jüngsten Vergangenheit zeigen: Abzocker, 1:12-Lohnspanne, Mindestlöhne und eine Erbschaftssteuer auf Bundesebene.

Seit den Achtzigerjahren herrscht ein zunehmender Mangel an Fachkräften. Bereits 2010 kamen 44 Prozent der Topmanager aus dem Ausland. Das Gesundheitswesen würde ohne ausländische Ärzte und Pflegepersonal kollabieren. Mangel gibt es auch bei den Fachkräften auf allen Stufen im Bildungswesen.

Finanzplatz muss sich fundamental erneuern

Zum Erfolgsmodell gehört(e) bis in die jüngste Vergangenheit auch der Finanzplatz. Dank ihrem Bankgeheimnis war die Schweiz ein sicherer Hafen, vor allem für Schwarzgeld aus dem Ausland. Mit dem Bankgeheimnis ist es nun vorbei. Im jüngsten Steuerabkommen mit den USA müssen die Banken nicht nur Namen der Kontoinhaber, sondern auch involvierter Kundenberater liefern. Dran sind auch private Vermögensverwalter und Treuhänder. Der automatische Informationsaustausch ist zum Standard nicht nur für die USA und EU, sondern für die OECD geworden.

Im Rahmen der «Weissgeldstrategie» gehen Banken so weit, ausländische Kunden aufzufordern, sich selbst anzuzeigen oder ihre Gelder bis Ende Jahr abzuziehen.

Fest steht: Die Schweiz ist kein sicherer Hafen für (vermögende) Ausländer mehr. Er wird an Bedeutung verlieren, muss sich im Rahmen der Weissgeldstrategie fundamental erneuern.