Anders kann es nicht sein. Das Samenkorn muss bereits in Emil Hohls Körper geruht haben seit seiner Jugend, gesetzt vom Vater wahrscheinlich, Seidenweber in Wolfhalden über dem Bodensee, der seinem Kind nur ein bescheidenes Zuhause zu geben vermochte, kein warmes Wasser, ein Plumpsklo, wo die Freunde doch ein Klo mit Spülung hatten.

von Christian Schmidt

Aber dafür hatte er in seinem Sohn das Verständnis für Bescheidenheit, Uneigennützigkeit und Grosszügigkeit gesät, gleichbedeutend mit Verständnis für die Besitzlosen. Ein Same, der spätestens an jenem Tag keimte, als Emil Hohl, inzwischen erwachsen, nach Südindien reiste. Firmenvertreter bei Oertli Instrumente war er damals, flog von Ärztekongress zu Ärztekongress und verkaufte Operationsbesteck zur Behandlung des grauen Stars, des mit 20 Millionen Operationen pro Jahr weltweit häufigsten chirurgischen Eingriffs. Das Geschäft florierte, alles war easy.

Doch dann brachte ihn sein Terminplan nach Madurai, Gliedstaat Tamil Nadu, Südindien. Ziel war eine lokale Augenklinik namens Aravind Eye Care, wenige Jahre zuvor gegründet und noch im Aufbau. Ein simples Gebäude, in dem sich Bett an Bett reihte. Und den Menschen, zu Dutzenden auf die Operation des grauen Stars wartend, stand die Armut ins Gesicht geschrieben. Es waren Landarbeiter, die aufgrund ihrer Blindheit nicht mehr aufs Feld konnten, es waren Weberinnen, unfähig zu sehen, was sie webten. Es waren Menschen, für die das Augenlicht Einkommen und damit Überleben bedeutete. Nun wurden sie operiert und von ihrer Blindheit befreit. Und zwar, ohne zu zahlen. Die Kosten übernahm Aravind: Transport ins Spital, Operation, Aufenthalt, Rücktransport nach Hause. Emil Hohl, schweizerische Verhältnisse gewohnt, wo Ärzte ihren Aufwand in Fünf-Minuten-Schritten abrechnen, staunte. Hier wurde eine Haltung vorgelebt, die er bis anhin nicht gekannt hatte. Was zählte, war das Schicksal der Blinden, und bei Aravind konnte man helfen, also half man. Ohne zu fragen, ohne zu fordern.

 


Abdruck aus dem Magazin Reportagen das Ende 2013 den Design Preis Schweiz gewonnen hat. Das Magazin fokussiert bewusst auf den im deutschen Sprachraum wenig gepflegten „Long-form-journalism“. Sechsmal pro Jahr erzählen darin herausragende Journalisten und Schriftsteller die Gegenwart dieser Welt. «Reportagen» ist erhältlich in Buchhandlungen und an grösseren Kiosken.

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Jon Lee Anderson

Exklusiv: Ein Abend mit dem Hemingway des 21. Jahrhunderts: Jon Lee Anderson, Kriegsreporter des «New Yorkers», am 5. Februar 2014 im Suvretta House in St. Moritz. Mehr dazu


 

Hohl verlangte nach dem Mann hinter der Idee, und man verstand sich sofort. In Indien, erklärte dieser, komme der graue Star als Folge von Mangelernährung und allzu grellem Licht sehr häufig vor. Doch der Mehrheit fehle das Geld für eine Operation. Deshalb würden seine Leute in den Dörfern Aufklärungskampagnen durchführen, dann die blinden Menschen hierherbringen. «Und wie finanzieren Sie Ihren Aufwand?», fragte Hohl. «Mit dem Geld unserer vermögenden Patienten», sagte der Mann. Diese würden von denselben Ärzten operiert, keine Sonderbehandlung, doch die reiche Kundschaft werde in Einzelzimmern untergebracht und mit den Geräten der allerneusten und nicht der zweitneusten Generation operiert – mit identischem Erfolg. Unter dem Skalpell seien alle gleich. Hohl verabschiedete sich. Beeindruckt. Flog von Kongress zu Kongress, sein Alltag ging weiter. Aber das Samenkorn begann zu keimen.

Seit jenem Tag sind inzwischen bald zwanzig Jahre vergangen. Frühling 2013. Beine übereinandergeschlagen, die eine Hand unter dem Kinn wie Rodins Denker, sitzt Emil Hohl im Konferenzraum der Medicel AG in Wolfhalden. Ein schmuckloser Metallbau an der Grenze zu Wiesen und Weiden, erst vor wenigen Jahren hochgezogen und schon wieder zu klein. Der Mann ist müde, und er bemüht sich nicht, seinen Überdruss zu vertuschen. Ab und zu schaut er nach draussen, zum gegenüberliegenden Hügel, Appenzeller Vorderland, wo eine Schweizer Fahne vor blauem Himmel weht.

Noch ein Jahr muss er hier ausharren, als Angestellter, als Geschäftsführer in jenem Unternehmen, das einst sein eigenes war. Das er 1996 aufzubauen begann, obwohl ihm seine Bank den gewünschten Kredit über lächerliche 30 000 Franken verweigert hatte. Das inzwischen 70 Mitarbeiter zählt und einen jährlichen Umsatz von über 30 Millionen Franken erwirtschaftet. Das Jahr für Jahr zweistellig wächst. Das er nun für 100 Millionen an eine Investorengruppe verkauft hat, Halma mit Sitz in der Nähe von London. «Ich habe mein Baby weggegeben», sagt Emil Hohl. Aber er hat sich die Käufer gut ausgesucht. «Protecting life and improving the quality of life for people worldwide», lautet der Geschäftszweck von Halma.

Und jetzt steht da ein Vertreter der neuen Besitzer vor ihm. Anzug, grosse Brille, Goldkette am Handgelenk, drei Handys, alle in derselben Vestontasche, weshalb er nie zu erkennen vermag, welches klingelt. Dieser Vertreter hat keine grosse Ahnung von Hohls Business, weiss wenig mehr, als dass die Medicel Injektionsgeräte für künstliche Linsen herstellt, wie sie für die Behandlung des grauen Stars eingesetzt werden, und dass das hier ein garantiert sicheres Geschäft ist: Blindheit, hervorgerufen durch grauen Star, nimmt weltweit zu. Dieser Mann spricht nun über die Beziehung zwischen Halma und Medicel. Er sagt «wir», wenn er von Medicel spricht, Emil Hohl sagt «ich». Gleichzeitig schreibt er auf ein Flipchart, allerdings ohne zu merken, dass gar kein Papier auf der Tafel ist. Realisiert, dass etwas nicht stimmt, kann das Problem aber nicht analysieren. Emil Hohl schaut zu, peinlich amüsiert ob der seltsamen Verwirrung. Soll er etwas sagen? Nein. Weshalb auch. Und so beobachtet er kommentarlos, wie der Gast mit seinen Filzstiften auf die Unterlage schreibt und nicht versteht, weshalb die Schrift sogleich in bunte Schlieren zerfliesst.

Hohl schaut wieder hinauf zur Fahne. Bald geht ihn das alles nichts mehr an. Bald ist er frei. Bald kann er tun, was er will. Schon im kommenden Jahr wird er hier ein Fremder sein, keine Schlüssel mehr haben, belegt mit einem Konkurrenzverbot. Dann will er tun, wozu es ihn drängt: Seine 100 Millionen oder einen Teil davon ausgeben. Und zwar für jene Menschen, denen sonst niemand hilft. Das zu tun, findet Hohl «völlig normal». Ein solches Engagement sei nichts Besonderes. Andere würden sich genau gleich verhalten. Und: Ein Gutmensch sei er deswegen noch lange nicht. Nein, das will er nicht hören. «Mich macht all das Geld nicht glücklicher als ich schon bin. Aber es kann andere glücklicher machen.»

Emil Hohls Erfolg basiert auf dem Leiden von Gordon «Mouse» Cleaver, im Zweiten Weltkrieg Pilot in der Schwadron 601 der Royal Air Force, Ass unter den englischen Piloten und als Playboy bekannt. Bei einem Luftkampf über England zerschmetterte eine Kugel seine Cockpithaube, worauf zahllose Plexiglassplitter in Cleavers Augen eindrangen und ihn sofort erblinden liessen. Cleaver blieb nichts anderes übrig, als die Maschine auf den Rücken zu legen, sich aus dem Cockpit fallen zu lassen und den Fallschirm auszulösen.

18 Operationen waren nötig, um das Sehvermögen des Piloten zu retten. Einige der Splitter waren jedoch so tief in die Glaskörper der Augen eingedrungen, dass sie sich nicht entfernen liessen. Erstaunlicherweise, so stellte der verantwortliche Chirurg fest, führten die Fremdkörper aber zu keiner Abwehrreaktion, weder kurz- noch langfristig. Die Augen akzeptierten das Plexiglas, als sei es Teil des Körpers.

Dieser Chirurg hiess Harold Ridley. Wie viele andere Augenärzte beschäftigte sich auch Ridley mit der Frage, wie an grauem Star erkrankte Menschen ihr Sehvermögen wieder zurückgewinnen könnten, einem seit langem bestehenden medizinischen Problem, dessen Lösung Ehre und Ruhm versprach. Nun hatte der Zufall ihm einen Patienten zugeführt, dessen Verletzung einen Ausweg erahnen liess. Ridley erkannte, dass sich aus dem durchsichtigen Plexiglas künstliche Linsen herstellen lassen mussten, die anschliessend anstelle der getrübten eingesetzt werden konnten. Nach eingehenden Versuchen und Tests erhielt er Ende November 1949 erstmals Gelegenheit, seine Theorie zu beweisen. In der Person einer Krankenschwester, an grauem Star erkrankt, hatte er ein ebenso mutiges wie hoffnungsvolles Versuchsobjekt gefunden. Der Eingriff war ein durchschlagender Erfolg. Wenige Tage später konnte seine Patientin wieder klar und deutlich sehen. Allerdings war die Operationstechnik noch rudimentär, ebenso die Qualität der Linsen. Doch der Grundstein für eine neue Dimension in der Augenchirurgie war gelegt.

Dass die Technik inzwischen weiterentwickelt wurde und zum weltweit häufigsten chirurgischen Eingriff führte, ist in erster Linie Emil Hohl zu verdanken. Emil Hohl, 55-jährig, Junggeselle, scharf geschnittenes Gesicht, aufgewachsen in demselben Ort, in dem er sein «Baby» aufgebaut hat. Aber das sei Zufall.

Nun wünscht der Vertreter von Halma eine Führung durch die Firma. Er will sehen, was man eingekauft hat. Was so unglaublich funktioniert und für das ganze Imperium der Investoren – 50 Firmen in 23 Ländern – ein Vorbild ist. Denn wer kann schon in Zeiten kränkelnder Ökonomie eine jährliche Umsatzzunahme von 25 Prozent vorweisen, und das seit zehn Jahren? Emil Hohl kann das. Weshalb er demnächst an einer Zusammenkunft aller zu Halma gehörenden Unternehmen auftreten muss. Er wird das Vorzeigebeispiel sein. Damit die anderen sehen, was möglich ist. «Mir graut davor», sagt Hohl später unter vier Augen.

Emil Hohl geht jetzt voran, bittet gleichzeitig entschuldigend wie auch stolz, die herumstehenden Schachteln doch zu verzeihen. Im Administrationsbereich, in den Gängen, in den Fabrikationsräumen, sogar im Lift türmen sich die versandfertigen Produkte, und natürlich stehen sie auch im eigentlichen Lager, das voll ist bis unters Dach. Das Geschäft läuft. Weshalb Hohl eine Erweiterung plant. Nochmals dreitausend Quadratmeter.