Unternehmen, die von den Funktionen der Natur abhängig sind, könnten einen Teil ihrer Marktkapitalisierung verlieren, sagt Nico Frey von der Bank J. Safra Sarasin in einem Interview mit finews.ch.


Herr Frey, die Bank J. Safra Sarasin war eines der ersten Finanzinstitute, das sich vor mehr als dreissig Jahren mit dem Thema nachhaltige Anlagen zu befassen begann. Warum eigentlich?

Im Jahr 1986 ereigneten sich zwei grosse Umweltkatastrophen – erstens der Reaktorunfall in Tschernobyl und zweitens der Grossbrand in Schweizerhalle bei Basel, bei dem kontaminiertes Löschwasser in den Rhein gelangte. Beide Ereignisse lösten weltweit grosse Betroffenheit aus und rückten so die Sorge um unsere Umwelt und Natur in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Bewusstseins.

Vor diesem Hintergrund lancierte die Bank 1989 ihr erstes Nachhaltigkeitsmandat. Anfang der 1990er-Jahre folgte der erste Nachhaltigkeitsfonds zu diesem Thema. Wenige Jahre später entwarf die Bank die heutige Nachhaltigkeits-Methodik, um Anlagen entsprechend zu bewerten. Mit anderen Worten: Die Bank leistete Pionierarbeit. Dieser Wissens- und Erfahrungsvorsprung erleichterte in der Folge die Weiterentwicklung – dies zu einer Zeit, da viele der heute erhältlichen Daten noch gar nicht zur Verfügung standen.

Ein thematischer Schwerpunkt in dieser Diskussion ist inzwischen die biologische Vielfalt. Was verstehen Sie darunter?

Wenn man über Natur spricht, muss man sich, vereinfacht gesagt, die vier Hauptsäulen der Natur vor Augen halten: Luft, Wasser, Boden und biologische Vielfalt.

«Die biologische Vielfalt ist das Rückgrat der Stabilität unseres Ökosystems»

Die biologische Vielfalt definiert sich als die Vielfalt der lebenden Organismen im Ökosystem. Dazu gehört die genetische Vielfalt. Sie ist die Grundlage für fast alles. Wie in allen komplexen Systemen ist die Vielfalt wesentlich für die Stabilität, indem sie kleine Schocks zulässt und auffängt – ähnlich wie die Diversifikation eines Finanzportfolios.

Die biologische Vielfalt ist das Rückgrat der Stabilität unseres Ökosystems und seiner Prozesse wie Pflanzenbestäubung, Wasserreinigung, Hochwasserschutz und CO2-Speicherung. Das alles ist für das menschliche Wohlergehen und den wirtschaftlichen Wohlstand unerlässlich. Die Passivität im Zusammenhang mit dem Verlust der biologischen Vielfalt ist letztlich mit sehr hohen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden.

Können Sie das genauer beziffern?

Von 1997 bis 2011 gingen weltweit schätzungsweise 4 bis 20 Billionen Dollar pro Jahr an Ökosystem-Funktionen verloren. Hinzu kommt, dass mehr als die Hälfte des globalen Bruttoinlandprodukts (BIP) von 44 Billionen Dollar teilweise oder in hohem Masse von der Natur und ihren Ressourcen wie Nahrungsmitteln, Fasern und Holz abhängig ist.

Was lässt sich daraus für die Finanzbranche ableiten?

Der Verlust an biologischer Vielfalt bedroht die Wertschöpfung. Schätzungen zufolge verringert der Verlust der biologischen Vielfalt das globale BIP um 3 Prozent pro Jahr1. Da mehr als die Hälfte des weltweiten BIP von der Natur und ihren Leistungen abhängt2, müssen wir jetzt handeln. Nur so können wir sicherstellen, dass unser Planet weiterhin gedeihen kann.

«Der erste Schritt besteht darin, umstrittene Aktivitäten auszuschliessen»

Unternehmen, die von den Funktionen der Natur abhängig sind, könnten einen Teil ihrer Marktkapitalisierung und ihrer Kreditwürdigkeit bei Obligationen verlieren. Die Übergangsrisiken für Unternehmen mit einem hohen Biodiversitäts-Fussabdruck nehmen zu, da der gesellschaftliche Konsens für den Naturschutz und damit auch die behördliche Kontrolle immer strenger werden.

Wie berücksichtigen Sie die biologische Vielfalt in Ihrem Anlageprozess?

Der erste Schritt besteht darin, umstrittene Aktivitäten auszuschliessen. Dabei spielen Überlegungen zur biologischen Vielfalt eine wichtige Rolle. Zu den ausgeschlossenen Aktivitäten, die sich stark auf die biologische Vielfalt auswirken, gehören zum Beispiel Kohle- und Kernenergie (Bergbau und Stromerzeugung) sowie Gentechnik in der Landwirtschaft.

Unternehmen, die eindeutig gegen den UN Global Compact verstossen, sind ebenfalls ausgeschlossen. Palmöl-Produktion, Fracking und Teersande sind weitere, relevante Ausschlusskriterien, die erhebliche Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben.

Reicht der Ausschluss von Unternehmen für eine nachhaltige Anlagestrategie aus?

Nein, es braucht einen zweiten Schritt, der das Anlageuniversum mit einer vertieften Nachhaltigkeitsanalyse definiert.

«So erhalten Firmen je nach Auswirkung des Vorfalls einen höheren Abzug in ihrem ökologischen Rating»

Eine solche Analyse der ESG-Risiken umfasst eine Kombination aus einem Best-of-Class- (Branchen) und Best-in-Class-Ansatz (Unternehmen). Biodiversitäts-Aspekte sind in beiden Analysen enthalten.

Zusätzlich fliessen thematische Kontroversen mittels einer globale Medienbeobachtung in das Unternehmensrating ein. So erhalten Firmen, die aufgrund von Umweltverschmutzung in den Medien oder in anderen öffentlichen Berichten auftauchen, je nach Auswirkung des Vorfalls einen höheren Abzug in ihrem ökologischen Rating.

Was sind die relevanten ESG-Risiken auf Unternehmensebene?

Derzeit beziehen wir die folgenden Themen in die Analyse ein, die direkt oder indirekt Biodiversitätsrisiken darstellen:

- Biologische Vielfalt und Landnutzung (relevant für 19 Branchen)
- Toxische Substanzen und Abfall (relevant für 35 Branchen)
- Wasserknappheit (relevant für 30 Branchen)
- Beschaffung von Rohstoffen (relevant für 24 Branchen)
- Chancen im Bereich Cleantech (relevant für 25 Branchen)
- CO2-Emissionen (relevant für 80 Branchen)
- Kohlenstoff-Fussabdruck von Produkten (relevant für 25 Branchen)
- Finanzierung von Aktivitäten mit Umweltauswirkungen (relevant für 8 Branchen)
- Verpackungsmaterial und Abfall (6 Branchen)

Bei der Analyse von Investitionen halten wir ausserdem Ausschau nach Unternehmen, die Lösungen für langfristige, disruptive Trends anbieten. Dazu gehören der Kampf gegen den Verlust der biologischen Vielfalt und die Wiederherstellung einer ausgewogenen Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt.

Wie lassen Sie diese ESG-Kriterien in Ihren Anlageprozess einfliessen?

Wir diversifizieren ESG-Risiken wie die des Verlusts der biologischen Vielfalt nicht nur in Bezug auf einzelne Wertpapiere, sondern auch auf Portfolioebene. Dies geschieht zum einen durch unsere ESG-Analyse des Portfolios über ein monatliches Dashboard und Monitoring.

«Biodiversität ist in unserer Abstimmungspolitik verankert»

Für viele Strategien legen wir spezifische Portfolioziele fest, wie die Verringerung des CO2-Fussabdrucks, die Anpassung an die Temperatur, Umsätze im Rahmen der sozialen Entwicklungsziele (SDG) und in Zukunft höchstwahrscheinlich auch Ziele in Bezug auf Biodiversität und Naturkapital.

Wir sind auch aktive Investoren respektive Aktionäre und unterstützen entsprechend unsere Unternehmen dabei, ihre ESG-Risiken weiter zu reduzieren und eine positive Wirkung zu erzielen. Biodiversität ist in unserer Abstimmungspolitik verankert, und wir führen aktiv direkte und kooperative Dialoge mit Unternehmen.

In Bezug auf die biologische Vielfalt gibt es allerdings noch einen grossen Mangel an verlässlich Daten. Wie gehen Sie damit um?

Tatsächlich ist bei der Datenerfassung und Berichterstattung über Risiken und Auswirkungen der biologischen Vielfalt noch viel zu tun ist. Die Daten über die biologische Vielfalt als Nachhaltigkeitsfaktor in den Portfolios sind heute etwa auf dem gleichen Stand wie das Verständnis der Klimarisiken bei der Unterzeichnung des Pariser Abkommens im Jahr 2015. Wir verpflichten uns, unseren Teil dazu beizutragen, dass der Schutz der biologischen Vielfalt nicht nur für Investoren immer dringlicher wird.

«In jüngster Zeit sind einige Initiativen zur Verbesserung der Transparenz eingeleitet worden»

Wir sind uns bewusst, dass detailliertere Daten erforderlich sind. Immerhin sind in jüngster Zeit einige Initiativen zur Verbesserung der Transparenz eingeleitet worden. So will die Task Force on Nature-related Financial Disclosures die Metriken rund um Biodiversitätsrisiken klären und plant für 2022 einen Testlauf für eine entsprechende Berichterstattung.

Die Bank J. Safra Sarasin ihrerseits ist Mitbegründerin des Finance for Biodiversity Pledge. Damit verpflichten wir uns, unser Wissen und unsere Expertise im Bereich Biodiversitäts-Risiken zu erweitern und zu teilen. Zudem fordern wir die führenden Politiker der Welt auf, Massnahmen zum Erhalt der Biodiversität zu ergreifen.

1European Environment Agency, Report on Biodiversity, 2015
2World Economic Forum, «The New Nature Economy Report», 2020


Nico Frey stiess im Oktober 2019 zum Sustainable Investment Research Team der Bank J. Safra Sarasin. Darüber hinaus ist er für das ESG-Länderrating der Bank verantwortlich und führt Nachhaltigkeitsanalysen für externe Fonds durch. Vor seinem Eintritt in die Bank sammelte er Erfahrungen als Account Director im Bereich Corporate Relations beim WWF, im Bereich Corporate Sustainability beim Detailhändler Lidl sowie am Institut für Wirtschaft und Umwelt der Universität St. Gallen. Darüber hinaus arbeitete er im Bereich Public Policy für die Credit Suisse und zeitweise für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Kolumbien.

 

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