Krypto-Anlagen und die Dezentrale Finanz bieten jedem die Möglichkeit, seine eigene Bank zu werden, sagt Ökonom und Autor Nils Otter zu finews.ch. In seinem neuen Buch zeigt er auf, wie Nutzerinnen und Nutzer auch ohne die Akteure des etablierten Finanzsystems anlegen können.


Herr Otter, mit dem Band ‹Kryptowährungen und der Dezentrale Finanzmarkt› haben Sandra Willmeroth und Sie ein neues Grundlagenwerk verfasst. Doch ist das Wissen um Bits und Coins inzwischen nicht schon allgegenwärtig?

Das Internet bietet zwar eine Fülle von Information über Kryptos an, und dieses Wissen kann quasi kostenlos genutzt werden. Das Auffinden, Sammeln, Auswerten und Verstehen dieser Informationen ist jedoch ein zeitaufwändiger und mühsamer Prozess. Als Ökonom bezeichne ich diesen Zeitaufwand, den sie dafür einsetzen, als Opportunitätskosten. Die benötigte Lebenszeit möchten wir den Lesenden gerne ersparen. Dies, indem wir in unserem Buch einen strukturierten und kompakten Überblick über die Zusammenhänge von Blockchain, Kryptowährungen, Finanzanlagen und Wallets geben.

Sie haben für das Buchprojekt wohl einige Lebenszeit geopfert. Was war Ihre persönliche Motivation dazu?

In gewisser Weise haben wir damit unsere eigene Reise ins ‹Kryptoversum› protokolliert. Auf dieser Reise haben wir versucht, eine Landkarte für den dezentralisierten Finanzbereich anzufertigen. Wir stellen diese Landkarte nun auch anderen Interessierten zur Verfügung, um ihnen die Logik und Funktionsweise unterschiedlicher Finanzanlagemöglichkeiten im Defi-Sektor vorzustellen.

A propos Landkarte: welches sind die grössten Irrwege und Missverständnisse, die sie beim breiten Publikum in Bezug auf die digitalen Anlagen erkennen?

Wie bei vielen anderen Dingen des Lebens auch, besteht zunächst einmal eine gesunde Skepsis gegenüber etwas Neuem. Erst recht wenn es sich um die Themen Geld und Finanzen handelt. Aber erinnern sie sich mal: Eine solche Skepsis und Kritik hat es auch bei der Einführung von Kreditkarten gegeben. Letztlich handelt es sich dabei um ein Vertrauens- und Sicherheitsproblem – und zwar völlig zu Recht! ‹Don`t trust, verify› ist nicht ohne Grund ein bekannter Krypto-Slogan.

«Alle Intermediäre wollen in der einen oder anderen Form bezahlt werden»

Wer sich jedoch etwas mit der zu Grunde liegenden Technologie beschäftigt, der wird erkennen, das ein dezentrales Netzwerk absolut sicher ist – und welcher Nutzen mit dem Einsatz von Kryptowährungen einher geht. Dieser Aspekt tritt aber bedauerlicher Weise gegenüber Schlagzeilen wie ‹Der nächste 275 Million Hack› in den Hintergrund.

Doch es geht nicht nur um die Barrieren in den Köpfen, oder?

Man muss tatsächlich auch einige technische Hürden überwinden, wenn man sich in die Abläufe und Prozesse eines neuen Geldsystems einarbeitet. Um eine Transaktion wie etwa eine Bezahlung per Bitcoin durchzuführen, muss der Anleger erst einmal eine Wallet angelegt haben, dann bei einer Kryptobörse angemeldet sein, dort eine Krypto-Währungen gekauft haben und dieses Geld anschliessend an eine andere Wallet-Adresse übersenden. Keiner dieser Schritte ist aussergewöhnlich schwierig. Aber in Summe sind hier einige neue Gewohnheiten zu erlernen.

Dennoch sind digitale Assets wie der Bitcoin nun auf sicherem Weg zum Mainstream. Aber wie steht um die Möglichkeiten von Decentralized Finance, die wohl viel bedeutendere Umwälzungen für das Finanzsystem versprechen?

Im traditionellen Finanzsystem sind die Anleger auf die Nutzung von Intermediären angewiesen, sei es die Bank, der Broker, ein Investmentfonds, Finanzberate und viele mehr. Sie alle wollen in der einen oder anderen Form bezahlt werden. Der dezentralisierte Finanzbereich, kurz DeFi genannt, bietet jederfrau und jedermann die Möglichkeit, zu seiner eigenen Bank zu werden und rentierliche Anlagemöglichkeiten wahrzunehmen. Dies, ohne dabei auf den Zugang gegen Bezahlung durch die klassischen Akteure des derzeitigen Finanzsystems angewiesen zu sein. Ökonomisch gesprochen lassen sich also Transaktionskosten einsparen. Und zwar eine Menge davon. Wovon alle Teilnehmenden profitieren.

Was bedeutet das konkret für private Anleger?

Insbesondere Kleinanleger erhalten durch DeFi neue Anlagemöglichkeiten, die sonst nicht vorhanden wären. Beispielsweise, weil keine Mindestanlage-Summen erforderlich sind, wie das bei vielen anderen Alternativen Anlagen wie Hedge-Fonds, Private Equity oder Immobilien der Fall ist. In der Welt der DeFi können bereits kleinste Summen lukrativ angelegt und permanent automatisch reinvestiert werden, so dass der Anleger langfristig vom Zinseszinseffekt profitiert. Und dies ist insbesondere hervorzuheben vor dem Hintergrund der Zinsentwicklung des vergangenen Jahrzehnts, wo wir dauerhaft negative Realzinsen gesehen haben. Dies führte dazu, dass sich traditionelle Sparanlagen nicht mehr lohnen.

«Globale Dienstbieter wie Google oder Facebook werden durch ein dezentrales System ersetzt»

Demgegenüber können im DeFi-Bereich, selbst mit einem sehr konservativen Investment in so genannte Stablecoins, Jahresrenditen zwischen 4 bis 8 Prozent erwirtschaftet werden. Zusammengenommen sehe ich hier eine innovative Bedrohung für das traditionelle Finanzsystem heranwachsen, die mit jedem Nutzer des Kryptogeld-Systems grösser wird.

Die etablierten Finanzintermediäre müssen sich also in Acht nehmen. Wo sehen Sie denn die vielvesprechendsten Anwendungsfelder für DeFi?

Neben dem Finanzmarkt-Bereich, der sich in den letzten zwei Jahren sehr dynamisch entwickelt hat und im Mittelpunkt der Entwicklung von so genannten Smart Contracts stand, sind Anwendungs-Möglichkeiten im Bereich der Logistik, etwa in Form eines automatisierten Supply-Chains-Managements, möglich. Eigentums-Nachweise jeglicher Art können fälschungssicher und nicht veränderbar in Form eines Non-fungiblen Tokens NFT geschaffen werden. Vor allem aber findet die Transformation des Internets, also der Weg zum Web3, auf der Blockchain statt. Globale zentrale Dienstbieter wie Google oder Facebook, die gegenwärtig unsere Daten nutzen und ökonomisch verwerten, werden durch ein dezentrales System ersetzt. 

Auch Big Tech muss sich demnach hüten?

Im dezentralen System entscheiden die Nutzer, wer ihre Daten nutzt und auf welche Weise – und zwar gegen eine entsprechende Bezahlung. Die monopolähnliche Stellung grosser IT-Konzerne, bei der die Datensicherheit der Nutzer nicht immer im Vordergrund steht, kann hierdurch aufgebrochen werden. Aufgrund der krypto-ökonomischen Eigenschaften bieten sich insbesondere auch Anwendungsfelder dort an, wo sensible Daten verwendet werden, wie etwa im Hinblick auf gesundheitsbezogene Daten und elektronische Krankenakten. Im Bereich von Politik und Verwaltung bestehen Einsatzmöglichkeiten natürlich im Kontext von elektronischen Wahlen oder digitalen Identitäten.

Auch aus der Not des Ukraine-Kriegs erwachsen gerade praktische Defi-Beispiele – NFT als Kriegsanleihen etwa, oder Krypto-Währungen als Zahlunsgmittel für Exil-Russen, wenn die Kartenzahlungen gesperrt sind. Könnte diese Exempel Schule machen?

Absolut! Bereits vor Ausbruch des Krieges gab es einige Wohltätigkeitsorganisationen, die Kryptowährungen aktiv und passiv einsetzten. Für den Bereich der internationalen Philantrophie und den gesamten Non-Profit-Sektor entstehen hier vielversprechende neue Projekt- und Finanzierungsmöglichkeiten, die über den reinen Empfang einer Spende in Form von Kryptowährungen hinausgehen.

«Aber können deshalb auch Russland oder bestimmte Oligarchen dies System ausnutzen?» 

Hinsichtlich der konkreten Situation in der Ukraine hilft DeFi auf drei Wegen: Erstens zumindest denjenigen Menschen, die bereits Teil des Krypto-Geldsystems sind, denn der Krieg hat die Funktionsfähigkeit des tradionellen Systems von Finanzdienstleistungen zerstört. Zweitens sind die Krypto-Spenden an die Wallet-Adressen der ukrainischen Regierung sofort einsetzbar und dabei schneller und sicherer als eine herkömmliche Überweisung. Laut Aussage des ukrainischen Digitalministers wurden damit bereits Nachsichtgeräte und Schutzwesten gekauft. Drittens erlaubt die Kreation einer NFT-Kollektion, wie dies etwa Wladimir Klitschko getan hat, ein zusätzliches Fundraising.

Hingegen wird auch geargwöhnt, dass Krypto-Anlagen als Sanktions-Schlupflöcher dienen. Zu recht?

Ich denke nein. Grundsätzlich kann sich natürlich jede Person überall auf der Welt mit Hilfe einer Kryptowallet eine Pseudonymität verschaffen, das ist zentraler Bestandteil der Logik eines dezentralisierten Netzwerkes. Auch ‹unerwünschte› Personen haben diese Möglichkeit, genauso wie ein nervender Nachbar auch Karten für ein Fussballspiel ihres Lieblingsclubs kaufen kann. Aber können deshalb auch Russland oder bestimmte Oligarchen dies System ausnutzen? Die weltweiten Krypto-Börsen, die man für eine Umgehung von Sanktionen nutzen müsste, kooperieren hier und haben die Wallets aller Organisationen und Personen, die auf der Sanktionsliste stehen, gesperrt. Hierüber können also keine Geschäfte durchgeführt werden.

Das reicht schon aus?

Zweitens wäre es erforderlich, dass entsprechende Lieferanten auch Krypto-Währungen als Zahlungsmittel akzeptieren, was einige Rüstungsmittel-Produzenten im Fall der Ukraine getan haben, aber eben aufgrund der Sanktionen Russland gegenüber verweigern. Drittens kommt hinzu, dass etwa der Rubel-Bitcoin Markt nicht gross genug ist, um Zahlungsströme in der Grössenordnung abzuwickeln, die es etwa für Energielieferungen braucht.

Nicht zuletzt wegen der Sanktionsfrage befassen sich die Regulatoren nun zunehmend intensiv mit der Thematik. Ist das zu begrüssen, oder wird ein hoffnungsvoller Markt zu Tode reguliert?

Dies ist in der Tat zweischneidig zu betrachten. Zunächst einmal sollte in der Diskussion zwischen Verboten von Krypto-Währungen und Regulierungen des Krypto-Marktes unterschieden werden. Hinsichtlich der Regulierungsfrage ist zu klären, was überhaupt Gegenstand der Regulierung sein soll und aus welchem Grund hier ein Regulierungstat-Bestand vorliegt.

«Im dezentralisierten Finanzbereich sehe ich keinen Anlass für regulatorische Schritte»

In einem vollständig dezentralisierten Netzwerk existiert keine Marktmacht, die einzelne Akteure zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Allerdings könnte aus Sicht des Verbraucherschutzes oder zur Durchsetzung von Massnahmen zur Geldwäscherei-Bekämpfung in Erwägung gezogen werden.

Wo setzen die Behörden zuerst an?

Ich persönlich erwarte eine Zunahme regulatorischer Eingriffe mit Blick auf die zentralisierten Krypto-Börsen, die gewissermassen das Scharnier zwischen der alten Fiat-Welt und dem neuen Krypto-Geldsystem darstellen. Im dezentralisierten Finanzbereich sehe ich keinen Anlass für regulatorische Schritte. Verbraucherschutz wird durch Eigenverantwortung ersetzt, ganz getreu dem gängigen Motto ‹Do your own research›.

Sie bieten in Ihrem Buch ja auch praktische Anlage-Tipps. Taugen digitale Investments zu mehr als zur Spekulation?

Davon bin ich absolut überzeugt, weil ich die DLT-Technologie als eine Basisinnovation betrachte. Innovations-ökonomisch handelt es sich um eine so genannte General Purpose Technology, die das Potenzial hat, in allen Bereichen unserer Lebens- und Arbeitswelt Impulse und neue Anwendungsmöglichkeiten hervorzubringen. Natürlich stellt dieser neue Markt aufgrund der derzeit noch bestehenden hohen Volatilität eine reizvolle finanzielle Spielwiese für Arbitrageure dar; Kurssteigerungen oder Renditen von mehreren hundert Prozent locken Spekulanten an.

Aber?

Betrachtet man jedoch die dahinterstehende Blockchain-Technologie samt ihrer potentiellen Anwendungsmöglichkeiten, handelt es sich um ein langfristiges Investment in eine Zukunftstechnologie, deren Preisschwankungen nicht im Vordergrund stehen sollten. Hier kommen die so genannten Hodler ins Spiel. So werden Anleger genannt, die Kryptowährungen einfach halten, weil sie daraufsetzen, dass sowohl die zunehmenden Anwendungs- und Einsatzmöglichkeiten als auch die weltweit steigenden Userzahlen zu einem langfristigen Preisanstieg führen werden.

Der Bitcoin steht schon lange wegen seines hohen Energieverbrauchs beim Mining in Verruf. Werden Digitaldevisen wie der Ether, die stärker auf die Proof-of-Stake-Gewinnung setzen, der wichtigsten Krypto-Währung bald den Rang ablaufen?

Für die Beurteilung des Energieverbrauchs der Blockchain-Technologie ist es immens wichtig, auf die Unterschiede des jeweiligen Konsensus-Mechanismus hinzuweisen. Bei der Bitcoin-Blockchain kommt das Proof-of-Work Verfahren zum Einsatz, was aufgrund der benötigten Rechnerleistung sehr energieintensiv ist.

«Die besondere Bedeutung des Bitcoin wird bestehen bleiben, als digitales Gold»

Aber auch hier sind nachhaltige Lösungen bereits vorhanden, erstens durch die Verwendung von grünem Strom, zweitens durch die Nutzung der Abwärme. Etwa, indem mit einer Mining-Farm ein Gewächshaus beheizt wird und hierfür kein Erdgas mehr erforderlich ist. Man kann dies auch als eine Chance betrachten, die dringend benötigte Energiewende mit innovativen Konzepten zu beschleunigen.

Werden Digitaldevisen wie der Ether, die auf die weniger energieintensive Proof-of-Stake-Gewinnung setzen, der wichtigsten Krypto-Währung bald den Rang ablaufen?

Blockchains mit Proof-of-Stake Verfahren haben dieses Problem nicht; laut Ethereum Mitbegründer Vitalik Buterin ist der Energieverbrauch um 99,95 Prozent niedriger. Blockchains wie Near Protocol oder Solana sind im übrigen karbonneutral. Die angesprochene Ethereum-Blockchain wird in den nächsten Wochen von Proof-of-Work auf Proof-of-Stake umgestellt, ein in der Szene mit grossem Interesse verfolgte Entwicklung. Die besondere Bedeutung des Bitcoin wird meiner Meinung nach auch in Zukunft bestehen bleiben, allerdings weniger in seiner Funktion als Zahlungsmittel, sondern vielmehr im Sinne der Wertaufbewahrungs-Funktion, also als ‹digitales Gold›.


Nils Otter ist Ökonom und Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sowie Autor zahlreicher Schriften zu volkswirtschaftlichen und finanzwissenschaftlichen Themen. Mit der Journalistin und Autorin Sandra Willmeroth hat er nun das Grundlagenwerk ‹Kryptowährungen und der Dezentrale Finanzmarkt› verfasst.

 

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.55%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    18.91%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    28%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.01%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.54%
pixel