In der Einleitung zu seinem Buch «Eine Krise der schöpferischen Zerstörung» beschreibt Ignaz Miller, wie die Schweizer Uhrenbranche in eine klassische Krise im Sinne des Ökonomen Joseph Schumpeter schlitterte. 

Lange Zeit hatte die Uhrenindustrie mit ihren 70'000 Beschäftigten unter einem doppelten Schutz gelebt. In der grossen Krise der dreissiger Jahre war das Uhrenstatut verabschiedet worden. Es vereiste faktisch die gesamte schweizerische Industrie und führte zu einer massiven Kapitalbeteiligung der Eidgenossenschaft. In der Quintessenz des Statuts war neue Konkurrenz nicht erlaubt. Jeder durfte nur das machen, was er immer schon produziert hatte.

International beflügelten der günstige Kurs des Frankens und die an den Dollar gekoppelten Notierungen für das Gold die Industrie. Die Kurse waren 1946 auf der Konferenz von Bretton Woods (New Hampshire) festgelegt worden.

Eine gewaltige Krise

Das Ergebnis von Bestandsschutz und Kursschutz waren ein sukzessiver Abschied vom Markt. Die Industrie produzierte für sich und nach ihren Vorstellungen. Alles in der sicheren Gewissheit, dass Uhren aus der Schweiz in der florierenden Nachkriegskonjunktur weltweit immer gefragt waren. Und dies in jeder Preisklasse.

Dieser Schutz mündete in eine gewaltige Krise. Aber ohne diese Krise wäre die Swatch nicht möglich gewesen. Die alten Strukturen aufzubrechen und sich an Bedürfnissen des Publikums orientieren, hätten eine Kulturrevolution verlangt. Dies war absolut ausgeschlossen bei einem mehrheitlich von Bern kontrollierten Konzern und den vielfältigen Interessen der Eigentümer.

Zunächst zeigte sich wieder, dass die Krise per definitionem jene Phase ist, in der man nicht weiss, wie es weiter geht. Aber auch, dass die Krise das Fundament für einen Neuanfang legt. Sobald es nämlich weitergeht, ist die Krise überwunden.

Zeit aus der Schweiz verkaufen

Es ging weiter mit der Rückbesinnung aufs Essentielle. Eine Uhr konnte günstig und genau sein, aber das allein reichte nicht. Die Uhr musste auch aus der Schweiz sein. Das war die Swatch. Mit dem Coup der Swatch holte sich die Uhrenindustrie ihr wichtige Position im Segment der günstigen Uhren zurück (den sogenannten Rosskopfuhren).

Weiter brauchte es seine Zeit, bis die Uhrenindustrie – oder wenigstens einige ihrer Mitspieler – erkannten, dass sie weniger die genaue Zeit verkauft als Emotionen. Darunter als erste Emotion, dass die Uhr aus der Schweiz sein musste.

Wettlauf um die genaue Zeit

Viele in der Industrie hatten gemeint, im Wettlauf um die genaue Zeit an der Spitze dabei sein zu müssen, und konnten ihre mechanischen Werke nicht schnell genug über Bord werfen. In dieser Zeit machte Rolex unbeirrt weiter.

Rolex verkauft eben auch eine Uhr, aber in erster Linie eine Emotion. Nicht anders Cartier. 1973 von einigen finanzkräftigen Investoren entdeckt, entstaubt und weltweit wahrgenommen, erlebte Cartier einem gewaltigen Aufschwung. Während die Schweizer Uhrenindustrie in ihrer grössten Krise überhaupt versank, reihte Cartier einen Rekord an den nächsten.

Niemand bei Cartier war nämlich vom Ehrgeiz beseelt, die genaue Zeit noch genauer zu machen. Der Ehrgeiz von Cartier war, sie unwiderstehlich zu machen. Nichts anderes wünschte sich das Publikum.

Ein grosses Ärgernis

Cartier spielte mit der Emotion des Luxus. Und arbeitete darüber das Archiv auf. Mit Jahrhundertwürfen der Tank und der Santos. Mit mythischen Kunden wie etwa Jack Kennedy, mit einer unerreichten historischen Tiefe. Mit Cartier öffnete sich eine neue Welt in den Vitrinen der Konzessionäre.

In den Emotionen, welche Cartier verkaufte, war auch das Swiss Made inbegriffen. Die Uhr konnte in Paris entstanden sein, aber sie musste aus der Schweiz kommen. Dass die Schweiz heute das Swiss Made nicht ausreichend schützt, ist ein Ärgernis. (Nichts macht bekanntlich unglücklicher, als Gefühle oder Emotionen zu enttäuschen.)

Ins Reich der Emotionen gehören schliesslich die Mechanik, die Komplikationen wie der Quantième perpétuel und den Kalibern aus der eigenen Fertigung.

Liga der Manufakturen

In der Uhrenkrise hatten die Unternehmungen nicht schnell genug ihre Ateliers schliessen können. Im Gefolge der umfassenden Emotionalisierung – und der Uhr allgemein als Gesprächsstoff – legen die Hersteller Wert darauf, sich von einem Dasein als Etablisseur zu verabschieden, um in die Liga der Manufakturen aufzurücken.

Das war nachdem sie sich von der Krise erholt und wieder Geld hatten. Nicht die genaue Zeit war und ist gefragt, sondern die eigene Fertigung. (Da hatten viele Hersteller – etwa die IWC – bereits die Produktion eigener Kaliber aufgegeben.)
Auf diesen Weg hin zur Manufaktur hat sich die Industrie ein Stück vorgetastet. Es hat eben etwas gebraucht zu begreifen, dass die Zeit – insbesondere die genaue – bei einer Uhr das unwichtigste ist. Dies gilt eben selbst für die Swatch.

Grosse Ausnahmefiguren

Rückblickend ist über die letzten 30 Jahre Uhrenindustrie festzuhalten: Es war nicht nur eine Welt der – falschinterpretierten oder nicht erkannten – Emotionen. Sie war häufig auch eine der Egomanen. Die Uhrenindustrie zog solche an. Und die Trendsurfer. Aber auch grosse Ausnahmefiguren. Sich durchzubeissen in dieser verfilzten Welt gelang nicht jedem. Energie gab die Aussicht auf ansehnliche Gewinne. Die Industrie arbeitet mit Margen von 25 Prozent. Am Ende half auch das Wissen, dass es sich in der Uhrenindustrie sehr viel angenehmer lebt als andernorts.

Am Ende hatte auch nicht der Staat die Uhrenindustrie in der Eidgenossenschaft gerettet. (Da hatten die Beamten in Bern längst den Überblick verloren.) Vielmehr rettete die Uhrenindustrie sich selbst.

Unschlagbares Swiss Made

Es gab Häuser, welche die Krise ignorierten und ungerührt weitermachten. Es gab auch solche, die gerade erst aufblühten; und solche gab auch, die sich kontrapunktisch definierten. Als Alternative zur Grossindustrie. Zu billig, ganggenau und aus Quarz. Die ein Verlangen nach Tradition und Authentizität spürten. Für sie hatte die Uhr nichts von ihrem emotionalen Wert eingebüsst. Auch nichts von ihrem Glanz und ihrem Status.

Die Uhrenkrise war eben eine klassische Krise im Sinne des Ökonomen Joseph Schumpeter: eine der schöpferischen Zerstörung. Die alten Familien warfen das Handtuch. Bislang völlig unbekannte Mitspieler kamen, wie Cartier oder Chopard, die alle davon lebten, erkannt zu haben, dass mehr gefragt war als die quarzgenaue Zeit.

Aber auch, dass das Swiss Made unschlagbar war.


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