Es gibt ein fast unüberschaubares Angebot an Kursen, Vorträgen, Büchern und Videos zum Thema Umgang mit Stress. Doch vieles davon taugt wenig oder ist einfach Hokuspokus. Abends bei eisigem Wind in einen vier Grad kalten See einzutauchen, könne jedoch Wunder bewirken, behauptet Bernhard Böttinger.
Von Bernhard Böttinger, Coach für «Leadership»
Es ist nicht wegzudiskutieren: Das Tempo unseres Arbeitslebens und die damit verbundene Hektik ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Ein Termin jagt den nächsten, Gespräche mit Chefs und Mitarbeitenden sind oftmals heikel, wichtige Entscheide erfordern grosse Denkarbeit und schwierige Verhandlungen mit Kunden rauben Zeit und Energie.
Ein Gegentrend ist nicht in Sicht. Eher noch schnelleres Tempo, noch mehr Veränderung und Komplexität kommen auf uns zu – und damit zwangsläufig auch mehr Stress und Anspannung.
Was hilft?
Durch meine eigene Erfahrung im geradezu chronisch hektischen Consulting-Umfeld habe ich mich schon früh gefragt, wie ich mit Stress umgehen kann, ohne dabei krank zu werden. Die naheliegendsten Strategien, die ich bei Kollegen gesehen habe, waren Essen, Rauchen und Trinken als Kompensation – offensichtlich keine vielversprechenden Lösungswege, und schon gar nicht nachhaltig oder gesund!
Doch was hilft? Und fast noch wichtiger: Was ist einfach, wirksam und mit wenig Zeitaufwand in den Arbeitsalltag zu integrieren, so dass ich daraus eine gute neue Gewohnheit entwickeln kann? Wie schaffe ich es, dass ich «dranbleiben» kann und der gute Vorsatz nicht nach wenigen Tagen oder Wochen wieder einschläft?
Allerhand Hokuspokus
Natürlich gibt es inzwischen ein riesiges und fast unüberschaubares Angebot an Kursen, Vorträgen, Büchern und Videos zum Thema Umgang mit Stress, die im Internet herumgeistern. Allerdings bin ich skeptisch bei allem, was zu sehr esoterisch erscheint oder nach Hokuspokus klingt.
Anfang April 2019 wollte es der Zufall, dass ich an einem Kurs für Trompeter sprichwörtlich «ins kalte Wasser geworfen» wurde: Der Dozent war ein grosser Fan der Wim Hof-Technik und hat uns Teilnehmer motiviert, es einfach auszuprobieren. Zusätzlich attraktiv fand ich, dass auch Hollywood-Grössen wie Oprah Winfrey und Tom Hanks sowie ein Star-Trompeter vom Erfolg dieser Technik schwärmen.
Das Ziel ist jedenfalls klar: Stress und Nervosität respektive Lampenfieber drastisch zu reduzieren, um im Konzert die bestmögliche Leistung genau auf den Punkt abzurufen. Mir war sehr schnell klar, dass ich das direkt auf meinen Beruf übertragen wollte – zumindest, wenn es funktionierte.
Viel Überwindung, ins eisige Wasser zu springen
Und wie lief es ab? Die vorbereitenden Atemübungen waren noch leicht zu schaffen. Als wir dann am Abend bei eisigem Wind in den 4 (!) Grad kalten Brienzer See eintauchten, wurde es richtig hart und verlangte grosse Willenskraft und viel Überwindung.
Sicher hat der Gruppendruck hier für einmal einen positiven Beitrag geleistet. Die 3 Minuten im eiskalten Wasser fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Jedoch kam die Belohnung prompt: Ein angenehmes Körpergefühl neben dem Stolz, es geschafft zu haben. Und nach nur wenigen Tagen stellte sich eine spürbare Entspannung ein.
Nie mehr Espresso trinken
Nach diesem überraschend positiven Erlebnis startete ich zunächst ein 10-Wochen-Programm mit täglich 20 Minuten Atemübungen und immer längeren kalten Duschen; der Effekt war jeweils direkt spürbar und hielt den ganzen Tag an. Ich fühlte mich mit Energie aufgeladen, so als müsste ich nie mehr einen Espresso trinken.
Heute, über ein Jahr später, dusche ich immer noch täglich mehrere Minuten kalt. Oft ist die Dusche von Beginn an auf kalt eingestellt. Ausserdem versuche ich, so häufig wie möglich im Zürichsee zu schwimmen, zum Beispiel direkt nach dem Joggen. Die positive Wirkung hält an, und ich wurde bereits häufig angesprochen, dass ich entspannt, fokussiert und energievoll wirke.
Kalte Dusche
Was mir sehr geholfen hat, diese neue Gewohnheit fest in meinem Tagesablauf zu etablieren war der geringe Zeitaufwand – im Prinzip reicht es für den Start, täglich einige Minuten kalt zu duschen.
Fairerweise sollte ich erwähnen, dass ich mich bereits zuvor um einen gesünderen Lebensstil bemüht hatte. Genügend Schlaf, gute Ernährung und regelmässige Fitness haben mir geholfen, mit dem Stress vor wichtigen Sitzungen, Präsentationen, Verkaufsgesprächen und Verhandlungen besser umzugehen. Doch die stress-reduzierende Wirkung der kalten Duschen ist um ein Vielfaches stärker und nachhaltiger.
Etwas Überwindung
Am besten gefällt mir daran, dass jede und jeder diese Technik ohne viel Aufwand ganz einfach selbst ausprobieren und erfahren kann. Es braucht am Anfang «nur» etwas Überwindung und Willenskraft.
Es ist definitiv empfehlenswert, in einer Gruppe zu starten und zumindest eine Person mit entsprechender Erfahrung zu konsultieren, um die Chancen zu maximieren, dass aus dem einmaligen Versuch eine nachhaltige neue Gewohnheit wird. Ein warmer Frühlingsanfang wie jetzt erscheint mir als optimaler Zeitpunkt für den Einstieg.
Bernhard Böttinger (Bild oben) hat sich nach seiner Karriere als Partner für Financial Services in führenden Beratungsunternehmen als Berater im Bereich «Leadership» spezialisiert. Er unterstützt seine Kunden bei strategischen Reviews, im Coaching und Mentoring von Führungskräften und Teams. Hierbei schöpft er aus seiner jahrelangen Führungserfahrung (er hat selber 60 Mitarbeitende geführt) und der ICF-zertifizierten Ausbildung «Coaching for Leadership».