Während die Nachhaltige Finanz einen «Goldrausch»-Moment erlebt, mangelt es auf der Analyseseite an verlässlichen Modellen. Was Banken und Versicherer bereits verwenden, taugt nicht für die Vorhersage nichtlinearer Krisenverläufe.

Von Rupak Ghose

Mark Twain sagte: «Ein Goldrausch ist es eine gute Gelegenheit, im Geschäft mit Hacken und Schaufeln zu sein.» In der Finanzwelt gibt es heute keinen grösseren Goldrausch als ESG, also Investments, die Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien berücksichtigen möchten.

Die Gouverneurin der US-Notenbank Fed, Lael Brainard, die dafür eintritt, dass die USA anderen Zentralbanken bei den Massnahmen gegen den Klimawandel folgen, hat kürzlich betont, dass «erhebliche Anstrengungen nötig sind, um die derzeitigen Datenlücken zu schliessen».

Kein Wunder also, dass die Datenanbieter den Aufstieg von ESG in der Finanzwelt als ihren Hacke- und Schaufel-Moment betrachten. Banken und Versicherer müssen jedoch neue Lösungen finden, um die Daten in ihre Modelle einfliessen zu lassen und zu verarbeiten.

Performance ist noch kein Indikator

Es ist unwahrscheinlich, dass es die eine verlässliche Quelle für ESG-Daten gibt, sondern eher ein Geflecht von Fäden. Klare Definitionen seitens der Regulierungs-Behörden werden wichtig sein – aber ESG beinhaltet auch ein qualitatives Element.

Finanz- und Softwaremodelle müssen Hand in Hand mit Branchenwissen und menschlichem Urteilsvermögen arbeiten. Eine entscheidende Herausforderung besteht darin, dass sich Banken und Versicherer auf zukunftsorientierte Daten konzentrieren müssen.

Im Fondsmanagement gilt das Mantra, dass die vergangene Performance nicht unbedingt ein Indikator für die zukünftige Performance ist. Das ist in allen aufsichtsrechtlichen Hinweisen zu Finanzprodukten verankert. Im Gegensatz dazu werden die Entscheidungen bei der Kreditvergabe und dem Underwriting stark auf die Extrapolation historischer Trends ausgerichtet.

Gestrandete Vermögenswerte

«Bei einigen Banken stützen sich die Frühwarnsysteme und Verfahren zur Bewertung der Zahlungsunfähigkeit von Kreditnehmern zu sehr auf unwirksame Indikatoren, veraltete Ratings und rückwärtsgerichtete Informationen», sagte Kerstin af Jochnick, Mitglied der Europäischen Zentralbank EZB, im vergangenen Monat.

Die durch ESG-, Technologie- und Lieferkettenveränderungen verursachten Störungen verringern die Bedeutung historischer Referenzpunkte und Segmentierungen weiter. Sie führen zu so genannten gestrandeten Vermögenswerten, wie etwa Unternehmen mit einer erhöhten Ausfall-Wahrscheinlichkeit oder nicht mehr versicherbaren Immobilien, weil sie sich in der Nähe von Waldbrand- und Überschwemmungs-Gebieten befinden.

Die sogenannten «Social Inflation», mit der steigende Entschädigungen bei Haftpflicht-Schäden bezeichnet werden, hat es in den USA besonders schwierig gemacht, das Ergebnis von Rechtsverfahren bei Versicherungs-Ansprüchen vorherzusagen.

Anspruchsvolle Datenerhebung

Obwohl Branchenführer vor Rekordschäden durch Naturkatastrophen im Jahr 2021 warnen, gehen nur wenige Versicherer davon aus, dass das zunehmende Ausmass und die Häufigkeit solcher Ereignisse in ihren Preis- und Kapitalmodellen fortbestehen. Die Auswirkungen der steigenden Inflation auf die Wiederaufbaukosten werden diese Berechnungen nur noch komplexer machen.

Banken und Versicherer können sich nicht länger auf interne Daten aus der Historie der Gegenpartei oder eine kleine Anzahl externer Quellen stützen. Das Sammeln und Aggregieren von Daten und die Entwicklung umfassender Risikobewertungen stellt nun eine grössere Herausforderung dar.

In Grossbritannien hat das Financial Reporting Council Unternehmen jüngst dafür kritisiert, dass sie ESG-Kennzahlen nicht ausreichend in ihren Jahresberichten einbeziehen. In Wirklichkeit ist eine Vielzahl von unstrukturierten Online-Quellen erforderlich, um die gesamte ESG-Wertschöpfungskette von den Lieferanten bis hin zu den Partnern und Käufern zu verstehen.

Maschinelles Lernen

Herkömmliche Berechnungsmodelle, wie sie von Banken und Versicherern eingesetzt werden, suchen nach einer linearen Ursache und Wirkung aus einem einzelnen Datenelement. Doch wie die EZB bei der Vorstellung der Ergebnisse eines umfassenden Klimawandel-Stresstests für die Engagements europäischer Banken feststellte, tendieren solche Risiken dazu, «auf nichtlineare Weise» zuzunehmen.

Sei es die Finanzkrise von 2008 oder die Coronakrise: Die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass plötzliche Schocks grösste Verwerfungen verursachen. Fortgeschrittene Algorithmen des maschinellen Lernens können besser geeignet sein, Signale zu extrahieren, als starre regelbasierte Algorithmen.

Signale im Rauschen erkennen

Neue Technologien und mehr Rechenleistung können dabei helfen, die riesige Menge unstrukturierter Online-Daten zu analysieren, aber es gibt keine Patentrezepte. Heerscharen firmeninterner Datenwissenschaftler und Analysten haben es bisher nicht geschafft, das Daten-Dilemma effektiv und wirtschaftlich zu lösen.

So wie die Hedgefonds-Manager in dem Film «The Big Short» die relevanten Datenpunkte zusammensetzen konnten, um die Finanzkrise vorherzusagen, müssen Banken und Versicherer auch weiterhin die richtigen Signale aus dem gesamten Rauschen herausfiltern. Die Fähigkeit, dies zu tunn und die Risikoprofile ständig zu verfeinern, wird ein Wettbewerbsvorteil sein.

Es sind immer mehrere Variablen im Spiel, die die Ergebnisse beeinflussen, und der Nachweis von Kausalität statt Korrelation ist ebenso eine Kunst wie eine Wissenschaft. Schliesslich ist das wirkliche Leben chaotisch. Dies gilt auch für ESG.


Rupak Ghose ist der Chief Operating Officer (COO) von Galytix, einem britischen Fintech-Unternehmen, das sich auf integrierte Daten-Ökosysteme für Banken und Versicherungen spezialisiert hat. Er begann seine Karriere 1998 auf dem Börsenparkett der Credit Suisse First Boston, bevor er ins Aktienresearch wechselte. Von 2003 bis 2011 war Ghose bei der Credit Suisse Analyst für diversifizierte Finanzwerte und gehörte zu den bekanntesten Gesichtern im Sektor. Nach seinem Ausscheiden bei der Schweizer Bank war Ghose von 2013 bis 2016 Leiter der Unternehmensstrategie beim Broker Icap und anschliessend bis 2019 bei der Firma Nex, die heute zur CME Group gehört.

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.5%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    18.89%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    28.03%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    8.98%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.61%
pixel