Trotz weiterhin tiefer Inflationsraten fordert Hyun Song Shin, Chef-Ökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, eine Normalisierung der Geldpolitik. Ansonsten drohe eine neue Finanzkrise.


Herr Shin, können wir heute ruhiger schlafen? Ist der Finanzsektor seit der Krise von 2007/2008 stabiler geworden?

Er ist tatsächlich in vielen Ländern heute weniger verletzlich, als er das vor zehn Jahren war. Das kann man mit grosser Sicherheit sagen. Die Banken weisen heute einen sehr viel geringeren Verschuldungsgrad auf als vor Beginn der Krise.

Ihr Eigenkapital ist gestiegen, was sie widerstandsfähiger gegen Schocks macht. Diese Entschuldung ging aber damit einher, dass die Banken heute deutlich weniger Geschäft ausserhalb ihres Stammlandes machen. Das kann man vor allem in Europa beobachten.

Welche Entwicklungen sehen Sie mit Sorge?

In Ländern, in denen die Krise 2007/2008 weniger gravierende Auswirkungen hatte, haben sich neue Risiken aufgebaut. In Australien, in Kanada oder in den skandinavischen Ländern ist das Ausmass der privaten Verschuldung mittlerweile hoch, und in China sind die Schulden der Unternehmen angestiegen. Teilweise liegt der Verschuldungsgrad heute über dem Niveau von vor 2007.

Was empfehlen Sie den Zentralbanken zu tun?

Die Weltwirtschaft befindet sich derzeit in einer recht guten Verfassung. Die Verantwortlichen sollten dieses Wachstumsmomentum nutzen und zu einer normaleren Geldpolitik zurückkehren. Die US-Zentralbank ist mit ihren Leitzinserhöhungen schon ein Stück vorangegangen. Wir stehen aber auch in den USA erst am Anfang. Es ist noch ein weiter Weg zu gehen.

Warum sollen Zentralbanken die ultralockere Geldpolitik mit Anleihekäufen und Negativzinsen aufgeben? Die Inflationsraten sind nach wie vor ziemlich niedrig.

Die Geldentwertung ist im Vergleich zum Vorjahr in der Tendenz gestiegen. Trotzdem haben Sie Recht: In einigen Ländern liegt die Inflation unter den Zielwerten der Zentralbanken, obwohl die Wirtschaft dort wächst und sich die Beschäftigungssituation deutlich verbessert hat.

«Ein Teil der globalen Wertschöpfung geht auf Firmen zurück, die wenige Leute beschäftigen»

Strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt könnten eine Antwort auf die Frage sein, warum dies so ist. In der Nachkriegszeit ging höheres Wachstum ja bislang in der Regel mit höheren Inflationsraten einher.

Was sind denn diese strukturellen Veränderungen, von denen Sie sprechen?

Ein wachsender Teil der globalen Wertschöpfung geht zum Beispiel auf Unternehmen zurück, die sehr stark technologieorientiert sind, aber vergleichsweise wenige Leute beschäftigen. Denken Sie beispielsweise an die Internetfirmen.

Dies führt nach unter anderem dazu, dass der Faktor Arbeit bei der Preisentwicklung eine geringere Rolle spielt. Das Lohnwachstum ist auch auffallend gering. Lohn-Preis-Spiralen, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, sind so weniger wahrscheinlich.

Die Preisstabilität, das wichtigste Ziel einer Zentralbank, bleibt trotzdem gewahrt. Wieso also handeln?

Wir haben immer die Auffassung vertreten, dass eine ultralockere Geldpolitik trotz geringer Inflationsraten die Stabilität des Finanzsystems untergraben kann. Extrem niedrige Zinsen sind ein Anreiz, sich höher zu verschulden. Eine sehr hohe Verschuldung macht ein System anfälliger für Krisen. Es wird instabiler.

«Länder, in denen die Haushalte hoch verschuldet sind, wachsen mittelfristig langsamer»

Darüber hinaus wachsen Länder, in denen die Haushalte hoch verschuldet sind, mittelfristig langsamer. Das haben unsere empirischen Untersuchungen ergeben. Wenn man hoch verschuldet ist, zögert man bei Investitionen oder schränkt seinen Konsum ein.

Zudem fällt es Finanzunternehmen schwieriger, ihre Renditezusagen auch einzuhalten. Nehmen Sie das Beispiel Lebensversicherungen mit garantierten Erträgen.

Kritiker behaupten, die verschärfte Bankenregulierung und zu hohe Eigenkapitalanforderungen an die Banken hätten das Wachstum gebremst?

Wenn Kredite mit viel Eigenkapital der Bank hinterlegt werden müssen, wird sich die Bank genau überlegen, ob sie das Darlehen überhaupt vergibt.

Wir sollten sicherlich keine überbordende Regulierung anstreben, weil sie das Bankgeschäft unnötig hemmt. Wer wiederum das Kreditwachstum wirksam fördern will, braucht starke Banken – also Banken, die über ein hohes Mass an Eigenkapital verfügen. Mehr Eigenkapital im Bankensystem ist die beste Voraussetzung für ein robustes Kreditwachstum und eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung.

Hinken die europäischen Banken bei der Kapitalisierung ihren Konkurrenten in anderen Teilen dieser Welt hinterher?

Man darf beim Blick auf das Eigenkapital der Banken in Europa die jüngste Geschichte nicht vergessen. Vor der Krise 2007/2008 waren die europäischen Banken sehr stark über Kredite finanziell miteinander verflochten. Diese Verflechtung hat stark abgenommen. Banken haben sich wieder stärker auf ihre Heimatländer konzentriert.

«Die Schwierigkeiten der Banken haben das Wachstum gebremst»

Zudem mussten die europäischen Banken ja mit zwei Schocks fertigwerden. Zum einen waren sie gezwungen, die Belastungen aus der globalen Krise 2007/2008 zu stemmen, zum anderen traf sie 2011/2012 die europäischen Schuldenkrise.

Die schwächere Verfassung des europäischen Bankensektors spiegelt zumindest teilweise diese Entwicklungen wider. Die Schwierigkeiten der Banken haben das Wachstum gebremst. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass die Eigenkapitalbasis der Finanzinstitute gestärkt wird.

Viele Menschen in den westlichen Industrieländern beklagen eine in ihren Augen wachsende soziale Ungleichheit. Hat die Globalisierung diese Ungleichheit beschleunigt?

Nach unseren Untersuchungen ist der technische Wandel der grösste Treiber dieser Veränderungen. Innovationen wie das Internet haben zum Beispiel einzelne Unternehmen stark wachsen lassen und deren Mitarbeiter sehr reich gemacht. In anderen Wirtschaftsbereichen führen genau diese Innovationen hingegen zu Jobverlusten oder rückläufigen Einkommen.

Die Regierungen sollten auf den technischen Fortschritt reagieren, indem sie den Menschen helfen, sich möglichst gut an die Veränderungen anzupassen. Wer glaubt, über Barrieren zwischen den Ländern den Zustand breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern, erreicht das Gegenteil dessen, was er anstrebt.

  • Das Interview führte Bernd Kramer, Wirtschaftsredaktor bei der «Badischen Zeitung» in Freiburg im Breisgau.

Hyun Song Shin ist seit dem 1. Mai 2014 Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Der Südkoreaner wurde 1950 geboren und hat in Oxford Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften studiert. Von 2000 bis 2005 lehrte er an der London School of Economics, ehe er an die amerikanische Eliteuniversität Princeton ging. Im Jahr 2010 beriet Hyun Song Shin den koreanischen Präsidenten und gestaltete die Finanzstabilitätspolitik massgeblich mit.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel ist die bedeutendste internationale Institution im Dreiländereck. Sie gilt als die Bank der Notenbanken. Bei ihr sind das Sekretariat des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht und das Sekretariat des Financial Stability Board (FSB) angesiedelt sowie weitere Gremien, die die Währungs- und Finanzstabilität fördern. Der Basler Ausschuss und der FSB erarbeiten unter anderem die Standards, die das globale Finanzsystem sicherer machen sollen.

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