Die Expertise von Arbeitskräften ist eine wertvolle Ressource. Will die Schweiz ihre Position als führender Finanzplatz behaupten, muss sie ihr Wissenskapital pflegen, sagt François Degeorge.


Herr Degeorge, die Bankangestellten sind in ihrem Job wieder zuversichtlicher als auch schon, wie eine kürzliche Studie zeigte. Worauf führen Sie das zurück?

Der Schweizer Bankenplatz hat in den vergangenen Jahren einen fundamentalen, teilweise auch schmerzhaften Wandel erlebt. Zahlreiche Finanzinstitute haben sich und ihr Angebot neu ausgerichtet und dabei viel von ihren Mitarbeitenden abverlangt.

Die damit verbundene Verunsicherung der Beschäftigten weicht nun offenbar der Erkenntnis, dass der Schweizer Finanzplatz heute insgesamt deutlich besser aufgestellt und fit für die Zukunft ist.

Allerdings gehen viele Beschäftigte davon aus, dass sie in den nächsten Jahren eher weniger verdienen werden. Teilen Sie diese Einschätzung?

Das mag punktuell zutreffen, einen generellen Trend vermag ich aber nicht zu erkennen. Die Löhne im Schweizer Bankensektor sind im Vergleich mit anderen Industrien nach wie vor attraktiv, und die Mitarbeitenden haben wohl erkannt, dass die Transformation der Branche eine wichtige Investition in die eigene berufliche Zukunft ist.

Rechneten sich viele Bankmitarbeiter in den vergangenen Jahren die grössten Karrierechancen in Bereichen wie Compliance oder Legal aus. So hat das klassische Private Banking offenbar wieder an Attraktivität gewonnen. Was könnten die Gründe dafür sein?

Sicher ist, dass in den Bereichen Legal und Compliance aufgrund der zunehmenden Regulierungsdichte ein gewisser Nachholbedarf bestanden hat – entsprechend haben die Banken reagiert.

«Die Anforderungen an die Mitarbeitenden in der Finanzbranche nehmen laufend zu»

Jetzt liegt der Fokus richtigerweise wieder auf dem eigentlichen Kerngeschäft, das sich an neuen Kundenbedürfnissen orientiert und damit auch interessante berufliche Chancen eröffnet.

Parallel zur Arbeit in den Banken gewinnen Fintech-Firmen, unabhängige Vermögensverwalter und Investmentgesellschaften als Arbeitgeber zunehmend an Attraktivität. Gehen Sie mit Ihren Lehrgängen beim Swiss Finance Institute (SFI) auf diese Verschiebung ein?

Wir richten das Aus- und Weiterbildungsprogramm auf die gesamte Finanzindustrie aus und nicht auf einzelne Akteure, das wäre aus meiner Sicht kein zielführender Ansatz. Viel mehr legen wir grossen Wert darauf, dass die Absolventen unserer Programme in der Lage sind, mit den am SFI erworbenen Kenntnissen in allen Bereichen der Finanzindustrie zu bestehen und Mehrwert durch neues Wissenskapital zu schaffen.

Generell wird gerade in der Finanzbranche die permanente Weiterbildung immer wichtiger. Wo sehen Sie die wichtigsten Themen, mit denen sich Bankangestellte beschäftigen sollten, und für die Sie auch entsprechende Lehrgänge anbieten?

Die Anforderungen an die Mitarbeitenden in der Finanzbranche nehmen laufend zu – das Geschäft wird noch einmal deutlich anspruchsvoller. Das ist auch dem Einsatz neuer Technologien – Stichwort Digitalisierung – geschuldet. Die damit verbunden Komplexität erfordert von Mitarbeitenden auf allen Stufen ein vertieftes Verständnis der übergeordneten Zusammenhänge in einem Management-Kontext, damit sie in der Lage sind, tragfähige Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen.

«Das kann nicht im Interesse des Schweizer Finanzplatzes sein»

Wie die Rückmeldungen unserer Teilnehmenden bestätigen, vermitteln wir am SFI das hierfür zwingend notwendige Wissenskapital sehr erfolgreich – sowohl in klassischen Weiterbildungslehrgängen, in öffentlichen Anlässen und Publikationen als auch im direkten Austausch zwischen SFI Professoren/-innen und Entscheidungsträgern aus der Industrie.

Das SFI profiliert sich unter anderem mit umfangreichen wissenschaftlichen Forschungsanalysen. Inwiefern sind solche Arbeiten für die Finanzbranche wichtig?

Die Finanzforschung ist ein Schlüsselfaktor für den Bankensektor. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass ein Werkplatz, der auf die Forschung verzichtet, zum reinen Produktionsstandort degeneriert. Das kann nicht im Interesse des Schweizer Finanzplatzes sein.

«Die wertvollste Ressource einer Branche ist die Expertise der Arbeitskräfte»

Vor diesem Hintergrund gebührt unserer Trägerschaft, den Banken in der Schweiz und des Bundes, ein grosses Lob für ihre weitsichtige Investition in die Forschungsaktivitäten des SFI.

Die Schweiz unterhält einen weltweit führenden Finanzplatz. Wie steht es um den Ausbildungsstandort Schweiz in Sachen «Finanzwissenschaft»?

Die wertvollste Ressource einer Branche ist die Expertise der Arbeitskräfte – das Wissenskapital der Beschäftigten. Damit die Schweiz ihre Position als führender Finanzplatz behaupten kann, muss dieses Wissenskapital gepflegt und gestärkt werden. Das SFI trägt dazu bei, indem es unter einem Dach zukunftsweisende Ideen und tragfähige Konzepte weiterverfolgt und zentrale Finanzplatzakteure zusammenführt.

«Es liegt im ureigenen Interesse der Schweiz, dass sie ein leistungsfähiger Forschungsstandort bleibt»

So titelte eine Schweizer Sonntagszeitung unlängst: «Das heimliche Weltspitzeninstitut» und bezog sich dabei auf den Umstand, dass das SFI in Europa unter den führenden drei – weltweit unter den Top-10 – der finanzwissenschaftlichen Denkfabriken rangiert.

Dies stimuliert natürlich auch die Ausbildungslandschaft, einerseits werden renommierte Fachexperten und Talente in die Schweiz gelockt und andererseits geben diese ihr Wissen an die kommenden Generation von Finanzfachleuten weiter – so wie es bei den zahlreichen Erstausbildungslehrgängen in Banking & Finance an den sechs SFI-Partneruniversitäten der Fall ist. Es liegt demnach im ureigenen Interesse der Schweizer Finanzindustrie, dass unser Land auch in Zukunft ein leistungsfähiger Forschungsstandort bleibt.


François Degeorge ist Managing Director des Swiss Finance Institute (SFI), SFI Senior Chair und Professor für Finanzwesen an der Università della Svizzera italiana (USI). Er ist ehemaliger Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der USI und ehemaliger Präsident der European Finance Association. Er lehrte an der HEC Paris, wo er auch als Associate Dean for Research tätig war. Daneben war er Gastprofessor an der Tuck School of Business (Dartmouth), an der Université Paris-Dauphine und an der Saïd Business School (Oxford). Professor Degeorge hat an der Harvard University promoviert, wo er Fulbright-Stipendiat und Arthur-Sachs-Stipendiat war.