Die «Black Lives Matter»-Bewegung hat die Schweiz erreicht und hinterfragt einzelne Denkmäler – unter anderem dasjenige des Credit-Suisse-Gründers Alfred Escher. Muss damit die Geschichte neu bewertet werden? Antworten dazu von Historiker und Alfred-Escher-Kenner Joseph Jung. 


Herr Jung, Sie befassen sich seit vielen Jahren mit dem Vermächtnis Alfred Eschers. War Ihnen bekannt, dass die Familie Escher in Kuba auf ihren Kaffee-Plantagen Sklaven hielt?

Selbstverständlich. Doch die Familie Escher gibt es nicht. Die Escher, eines der bedeutendsten alten Zürcher Geschlechter, bestehen aus vielen Zweigen. Die Sklavenfrage und die Plantagen auf Kuba wurden in Zürich bereits im 19. Jahrhundert diskutiert. Darüber gab es damals heftige Auseinandersetzungen, die verpolitisiert und selbst vor Gericht ausgetragen wurden.

Haben Sie das in Ihren Werken thematisiert?

Ja, bereits in der ersten Auflage meiner Escher-Biographie (2006) und bis heute immer wieder. Was ich ursprünglich nicht wusste, waren Umstände und Hintergründe der Sklavenarbeit auf den Plantagen und namentlich die Schicksale der Versklavten.

«Alfred Eschers Vater ging gegen die bösartigen Vorwürfe, sein Vermögen beruhe auf Sklavenhaltung, vor Gericht»

Diese kubanischen Quellen lagen mir nicht vor. Doch diese sind heute wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert. Diese Erkenntnisse habe ich auch in mein aktuelles Werk zur Geschichte der Schweiz aufgenommen.

Ist es zulässig, einen Zusammenhang zwischen Alfred Escher und dem Rassismus herzustellen?

Wir müssen klarstellen, dass Alfred Escher nie auf Kuba war und auch keine Sklaven hatte. Die Auseinandersetzung drehte sich um einen seiner Onkel. Dann ging Alfred Eschers Vater gegen die bösartigen Vorwürfe, sein Vermögen beruhe auf Sklavenhaltung, vor Gericht. Im Jahr 1846 stellte das Zürcher Bezirksgericht fest, dass Vater Escher weder Sklavenbesitzer gewesen war noch Sklavenhaltung betrieben hatte.

Muss man im Fall von Alfred Escher die Geschichte neu schreiben oder zumindest ergänzen – genauso wie es nicht mehr möglich ist, «Mohrenköpfe» zu verkaufen?

Die Geschichtsschreibung hört nie auf. Man kann stets weiterforschen und Kontexte neu beleuchten. Auch Fragestellungen können sich ändern. Doch ich gehe davon aus, dass heute die relevanten Quellen über Alfred Escher bekannt sind.

«Denkmäler sollten nicht nur rückwärts gerichtet sein»

Es gibt keinen Schweizer Politiker und Wirtschaftsführer des 19. Jahrhunderts, dessen Leben und Werk wissenschaftlich derart ausführlich und detailliert aufgearbeitet ist.

Macht es für Sie Sinn, die Existenz eines Denkmals aufgrund von Massenbewegungen zu hinterfragen?

Zunächst ist zu sagen, dass es ganz unterschiedliche Denkmäler gibt. Solche, die mit den vielfältigsten Ereignissen oder Personen in Zusammenhang stehen können, solche, von denen man heute vielleicht nicht einmal mehr weiss, warum jemand oder etwas dargestellt ist.

Es stehen künstlerisch wertvolle Denkmäler neben zweit- oder drittklassigen. Dann gibt es Kunstdenkmäler und Baudenkmäler oder denken Sie an Industriedenkmäler. Auch der Gotthardtunnel zum Beispiel ist ein Denkmal. Denkmäler sollten nicht nur rückwärts gerichtet sein.

«Im Fall Alfred Eschers läuft die Plaketten-Diskussion in eine falsche Richtung»

Wie das Wort schon sagt: Ein Denkmal sollte zum Denken anregen. Und ja: Denkmäler sind so gesehen stets zu hinterfragen. Man sollte sich mit der dargestellten Person oder mit dem entsprechenden Ereignis kritisch auseinandersetzen. In einem solchen Kontext hat ein Denkmal aus dem 19. Jahrhundert auch heute noch Bedeutung und verdient seinen Standort.

Die Forderungen im Umgang mit dem Zürcher Denkmal Alfred Eschers reichen von der Anbringung einer Plakette mit ergänzenden Informationen bis hin zur Entfernung der Statue. Was halten Sie für richtig?

Es ist jedem Eigentümer und jeder Eigentümerin eines Kunstwerks freigestellt, Schautafeln aufzustellen und Informationen aufzulegen. Im Fall Alfred Eschers läuft die Plaketten-Diskussion indes in eine falsche Richtung. Denn Eschers Vater erwarb und bebaute seine Zürcher Grundstücke lange vor der ominösen kubanischen Erbschaft: Die Liegenschaft am Hirschengraben, das Belvoir und die Häuser am Zeltweg.

«Historisch interessant ist die Frage nach den Kapitalflüssen»

Und vielfach sind historische Kontexte zu komplex, als dass sie in ein Schlagwort gefasst werden könnten. Alfred Escher eignet sich nicht als Verantwortlicher für Sklavenwirtschaft. Historisch interessant ist die Frage nach transatlantischen Kapitalflüssen.

Wie stark haben Sklavenhandel und Sklavenarbeit die Industrialisierung der Schweiz gefördert? Wie stark profitierte der Handel davon? Solche oder ähnliche Fragen zu stellen, scheint mir der Sache dienlicher zu sein als die Forderung nach lapidaren Plaketten.

Ist nun zu befürchten, dass die Statue von Alfred Escher künftig eher mit Rassismus als mit den eigentlichen Verdiensten dieser Person assoziiert wird?

Nein. Denn dafür gibt es keine Grundlage.

Sind Denkmäler für einzelne Personen in unserer Zeit überhaupt noch adäquat?

Die Hochblüte bei der Erstellung von Kunstdenkmälern war das 19. Jahrhundert. In der heutigen Zeit werden – von Ausnahmen abgesehen – nur noch selten neue Denkmäler errichtet.

«Aktuelle Fragen der Gegenwart finden sich letztlich bei Alfred Escher verankert»

Doch warum sollte ein Kunstdenkmal in unserer Zeit grundsätzlich nicht adäquat sein? Es kommt ganz darauf an, was oder wer warum und wie dargestellt wird.

Warum verdient Alfred Escher ein Denkmal?

Alfred Escher hat die Entwicklung der modernen Schweiz nach 1848 angestossen wie kein anderer Politiker und Wirtschaftsführer.

Kann uns die Figur Alfred Escher heute noch etwas auf den Weg geben?

Vieles! Welche Infrastrukturen braucht ein Land? Die Bedeutung der Bildung für die gesellschaftliche Entwicklung? Der Forschung? Kann ein kleiner Staat unabhängig sein? Neutralität und Aussenpolitik und die Beziehung zu Nachbarländern und zur weiten Welt: Aktuelle Fragen der Gegenwart finden sich letztlich bei Alfred Escher verankert.


pc 14001 515Joseph Jung war Gründungs-Geschäftsführer der Alfred Escher-Stiftung und während Jahren Chefhistoriker der Credit Suisse. Heute ist er als Historiker und Publizist selbständig (www.jungatelier.ch). Er lehrte an der Universität Freibug und ist Gastprofessor an Hochschulen und Universitäten. Er schrieb Standardwerke zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Schweiz. Mit seiner Biographie von Alfred Escher erzielte er einen Bestseller («Alfred Escher. 1819-1882. Aufstieg, Macht, Tragik», 6. Auflage 2017, NZZ Libro). Er ist Herausgeber von mehr als 5'000 Escher-Briefen und hat die Escher-Forschung wie kein anderer angestossen. Mit seinem neusten Werk «Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert» (2. Auflage 2020, NZZ Libro) gelang ihm ein grosser Wurf. Darin wird auch der Escher‘sche Sklavenbesitz auf Kuba problematisiert.

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.49%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    18.56%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    28.26%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.12%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.57%
pixel