Nur wenige Investoren wissen, dass es inzwischen mehr kotierte chinesische Unternehmen als börsennotierte US-Unternehmen gibt, wie die Anlagespezialisten Rebecca Jiang und Howard Wang von J.P. Morgan Asset Management im Interview mit finews.ch erklären.


China scheint die Coronakrise zumindest wirtschaftlich gut überstanden zu haben. Ist jetzt ein günstiger Zeitpunkt, um in chinesische Aktien zu investieren?

Howard Wang: China hat bei der Bewältigung von Covid-19 Beeindruckendes geleistet. Dennoch möchten wir uns davor hüten zu bestimmten, wann denn nun der ideale Zeitpunkt für Anleger wäre, in den chinesischen Aktienmarkt einzusteigen.

Tatsache ist, dass China dabei ist, sich zu einem der wichtigsten Kapitalmärkte der Welt zu entwickeln – ein Prozess, der unseres Erachtens noch viele Jahre anhalten und Chancen mit sich bringen wird.

«Wirtschaftliche Grösse ist jedoch nicht per se ein Grund, in einem Land zu investieren»

Die Grösse der chinesischen Wirtschaft ist der breiten Anlegerschaft bereits klar. Wirtschaftliche Grösse ist jedoch nicht per se ein Grund, in einem Land zu investieren – genauso wenig wie starkes Wirtschaftswachstum. Natürlich bieten beide Faktoren Potenzial.

Doch um dieses Potenzial finanziell zu realisieren, brauchen wir attraktive Anlagemöglichkeiten: gute Unternehmen, mit denen die Anleger finanziell vom wirtschaftlichen Gesamtbild profitieren können.

Wie sieht es in dieser Hinsicht im Reich der Mitte aus?

China hat sich im Laufe der letzten Generation gewandelt. Das Land hat sich von einer bedeutenden Wirtschaftsmacht mit wenig investierbaren Aktien zu einem breiten, tiefen und dynamischen Kapitalmarkt entwickelt. Nur wenige wissen, dass es inzwischen mehr börsennotierte chinesische Unternehmen als börsennotierte US-Unternehmen gibt.

«Ein wesentliches Risiko ist die anhaltende Volatilität chinesischer Aktien»

Immer mehr von ihnen gehören zu jenen unternehmerisch geführten, privatwirtschaftlichen Firmen, in die wir gerne investieren. Unserer Einschätzung nach wird sich die positive Entwicklung über Jahre oder vielleicht Jahrzehnte fortsetzen. Darauf müssen Anleger bei chinesischen Aktien ihr Augenmerk legen.

Was sind die grössten Risiken am chinesischen Aktienmarkt?

Howard Wang: Ein wesentliches Risiko ist die anhaltende Volatilität chinesischer Aktien. Dies ist teilweise auf die Dominanz der Privatanleger am Markt zurückzuführen. Der kurzsichtige, prozyklische Charakter dieser Anleger hat in der Vergangenheit zu erheblichen Marktschwankungen geführt und wird dies auch weiterhin tun – wenn auch in einem allmählich abnehmenden Ausmass, da institutionelle Anleger am chinesischen Aktienmarkt eine immer grössere Rolle spielen.

Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Volatilität, die einige Anleger beunruhigt, für andere Chancen schafft. Für diejenigen, die dank ihrer Ressourcen und ihres Zeithorizonts einen disziplinierten Bewertungsansatz verfolgen können, kann jeder kurzfristige Abverkauf Kaufgelegenheiten bei bevorzugten Titeln schaffen. Wichtig ist hier, sich nicht von Stimmungsschwankungen am Markt irritieren zu lassen, sondern mithilfe rigoroser Analysen durch sie hindurchzusehen.

«Zu besonders grossen Marktstörungen kam es 2015»

Ein weiteres Risiko ist die in der Vergangenheit gezeigte Tendenz der chinesischen Regierung, über die Aufsichtsbehörden an den Märkten zu intervenieren, und dies ohne vorherige Ankündigung und mit geringer oder fehlender Konsultation. Zu besonders grossen Marktstörungen kam es beispielsweise im Jahr 2015, als die Wertpapieraufsichtsbehörde mit extremen Massnahmen gegen die ihrer Meinung nach übermässige Spekulation an den öffentlichen Aktienmärkten vorging.

Die Massnahmen umfassten damals die Aussetzung von Börseneinführungen und Folgeemissionen, durch extreme Marktbewegungen ausgelöste allgemeine Handelsunterbrechungen und die Aussetzung des Handels mit einzelnen Aktien.

All dies legte einen Grossteil des lokalen Marktes sechs Monate lang lahm. Auf breiter Front wirkten sich diese Interventionen sehr negativ auf die Stimmung und die Marktentwicklung aus, und wir glauben, dass die Regierung aus dieser Erfahrung gelernt hat.

«In Sachen Transparenz und Disziplin bei der Kapitalallokation gibt es weiterhin Unterschiede»

Corporate Governance bleibt ein weiteres Risiko in China und ist ein Bereich, in dem der prüfende Blick und die Selektivität erfahrener Investmentmanager von entscheidender Bedeutung sein können. Auch in Sachen Transparenz und Disziplin bei der Kapitalallokation gibt es weiterhin Unterschiede, auch wenn sich hier im Laufe der Zeit bereits manches verbessert hat. Aus diesen Gründen glauben wir, dass eine gründliche Kenntnis einzelner Unternehmen und Managementteams anstelle eines passiven Ansatzes der Schlüssel zum Erfolg bei Anlagen am chinesischen Markt ist.

Wichtig ist am Ende, nicht nur die beträchtlichen Anreize für Investitionen in China, sondern auch einige der damit verbundenen Herausforderungen zu sehen. Der Weg zur Wertschöpfung führt über einen fundamentalen, längerfristigen, disziplinierten und rigorosen Ansatz.

In den USA und Europa investieren immer mehr Anleger nachhaltig – nach ESG-Kriterien. Ist nachhaltiges Investieren in China überhaupt möglich?

Rebecca Jiang: ESG-Überlegungen sollten in die Analyse jedes einzelnen Unternehmens einbezogen werden, unabhängig davon, an welchem Markt es notiert ist. ESG-Investitionen in China bringen in der Tat einige Herausforderungen mit sich – diese sind jedoch nicht so gross, wie viele Menschen glauben.

In China veröffentlichen mehr als 50 Prozent der börsennotierten Unternehmen in den Sektoren Energie, Materialien und Industrie – insbesondere die führenden Unternehmen mit hoher Marktkapitalisierung – Berichte zur sozialen Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility, CSR) und legen Ziele fest, die jedoch eher qualitativ als quantitativ sind.

«In der Regel fühlen wir uns in Hinblick auf Governance bei privaten Firmen wohler»

Im Allgemeinen zielen sie darauf ab, die von der Regierung vorgegebenen Ziele einzuhalten, anstatt ehrgeizige interne Ziele zu definieren. Beispielsweise legt das MIIT (Ministerium für Industrie und Informationstechnologie) verschiedene Umweltziele für die Schwerindustrie – wie den Stahl- und Chemiesektor – fest, die jedes Jahr und über den Fünfjahresplan hinweg erreicht werden sollen. Fluggesellschaften haben CO2-Emissionsziele; Expressversandunternehmen haben Energiesparziele usw.

In der Regel fühlen wir uns in Hinblick auf Governance bei privaten Firmen wohler als bei staatlich kontrollierten Unternehmen. Gleichwohl gibt es in jedem Teilsektor ein breites Spektrum von Standards. Aus diesem Grund ist unser proprietäres «Materiality Framework» wichtig.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Dieses wird im gesamten Anlageuniversum in den Schwellenländermärkten und in Asien-Pazifik angewandt. Für dieses Framework haben wir 54 Teilbranchen definiert, und für jede Teilbranche haben Analysten die Aufgabe, die für Unternehmen in dieser Branche fünf wichtigsten Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren. Basierend auf den fundamentalen Ansichten der Analysten erhalten die Unternehmen sodann Bewertungen in Bezug auf die einzelnen Themen.

Bei der Zusammenarbeit mit Unternehmen hilft uns dieses Framework, die Aufmerksamkeit der Geschäftsleitung auf die unserer Meinung nach für ihr Unternehmen wesentlichen Themen zu lenken. Da die Probleme je nach Teilbranche unterschiedlich sind, ist dies ein sehr gezielter Ansatz. Beispielsweise sind für ein Softwareunternehmen ganz andere Themen relevant als für einen Anbieter von Autoteilen.

«Im Grossen und Ganzen ist die durchschnittliche Qualität chinesischer Unternehmen niedriger»

Mit dieser Art von Engagement fühlen wir uns besser in der Lage, die Nachhaltigkeitsprobleme des jeweiligen Unternehmens zu verstehen – und im Laufe der Zeit auch Veränderungen zu bewirken.

In der Vergangenheit liess die Corporate Governance in vielen chinesischen Unternehmen sehr zu wünschen übrig. Hat sich etwas geändert?

Rebecca Jiang: Wie oben erläutert, fällt die Antwort von Fall zu Fall anders aus. Zum Beispiel gibt es einige chinesische börsennotierte Unternehmen, die im Ausland gelistet sind und internationale Governance-Standards haben. Einige von ihnen erhielten Investitionen von internationalen Venture-Capital- oder Private-Equity-Anlegern, die von Anfang an (vor dem Börsengang) internationale Grundsätze auferlegten.

«Wir treten sicherlich dafür ein, chinesische Unternehmen nicht wahllos zu kaufen»

Wie ebenfalls erwähnt, fühlen wir uns mit staatlichen Unternehmen (SOEs), die Aktienanleger in ihrer Stakeholder-Hierarchie ganz anders einordnen, weniger wohl. Im Grossen und Ganzen ist die durchschnittliche Qualität chinesischer Unternehmen niedriger als in den Schwellenländern insgesamt, aber dank der Tiefe und Liquidität des Marktes können wir immer noch ein grosses Universum geeigneter Anlagekandidaten finden.

Wir treten sicherlich dafür ein, chinesische Unternehmen nicht wahllos zu kaufen, sondern auf der Grundlage der Geschäftsmodelle oder Governance-Standards zu selektieren. Lokale Fachkenntnisse in diesem Bereich sind notwendig, damit wir kompetent selektieren können.

Es ist wichtig, ein erfahrenes Team von Mandarin sprechenden Investmentexperten zu haben, um alternative Datenquellen – wie Kontrollen der Lieferketten/-kanäle, Wettbewerber und Branchenexperten – zu analysieren und auf dieser Grundlage die Managementqualität und die Geschäftsbedingungen zu bewerten.

Welche Branchen sind mit Blick auf die nächsten fünf Jahre in China am attraktivsten?

Rebecca Jiang: Wir konzentrieren uns bei Anlagen in China auf langfristiges Wachstum. Wichtige Wachstumschancen eröffnen sich in den Sektoren Technologie, Gesundheitswesen und Konsumgüter. Viele Elemente dieser strukturellen Wachstumstrends wurden durch die Pandemie gefestigt und beschleunigt.

«Künstliche Intelligenz und Cloud Computing werden Teil des Alltagslebens»

Der Technologiesektor in China beschränkt sich nicht mehr auf Smartphones und E-Commerce. Künstliche Intelligenz und Cloud Computing werden Teil des Alltagslebens. Vor dem Hintergrund geopolitischer Unsicherheit und eines gewissen Risikos der Abkopplung von den USA vollzieht die chinesische Technologiebranche einen Schwenk in Richtung Binnenwirtschaft und strebt Durchbrüche bei Kerntechnologien an, um ihre Abhängigkeit von importierter Software und Hardware zu verringern.

Eine weitere strukturelle Veränderung, die schon vor der Krise erkennbar war, aber durch diese verstärkt wurde, ist die gestiegene Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen und -produkten, einschliesslich Gesundheitsinfrastruktur, vorbeugender Behandlungen und Impfstoffentwicklung. Chinas Gesundheitsbranche deckt eine beträchtliche Anzahl von Sektoren ab, und die Ausgaben für solche Dienstleistungen könnten weiter steigen. Wir sehen attraktive Anlagegelegenheiten in Bereichen wie pharmazeutischer F&E, F&E-Outsourcing und Herstellung medizinischer Geräte.

«Die China Merchants Bank gehört zu den profitabelsten Banken»

Nicht zuletzt ist die chinesische Mittelschicht mit steigendem Haushaltseinkommen und Lebensstandard zunehmend bestrebt, ihren Lebensstil zu verbessern; dies sowohl bei täglichen Bedarfsgütern als auch in der Unterhaltung. Neben der unterstützenden nationalen Politik dürfte der Konsum ein wesentlicher Wachstumsmotor werden.

Wie sieht der Bankensektor für einen potenziellen Anleger aus? Hat er Kurspotenzial?

Rebecca Jiang: Der Bankensektor gehört nicht zu unseren bevorzugten Marktbereichen in China. Die grössten Banken sind in Staatsbesitz, und Minderheitsaktionäre stehen auf ihrer Stakeholder-Liste nicht ganz oben.

Zum Beispiel wurden die Banken zu Beginn der Pandemie gedrängt, die Gesamtwirtschaft mit einem «nationalen Dienst» in Form niedrigerer Zinssätze für Kredite an kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie lockerere Rückzahlungsanforderungen zu unterstützen. Dieser positive Impuls für Kreditnehmer ging zulasten der Erträge der Aktienanleger. Dagegen waren Unternehmen des privaten Sektors in der Regel weniger Einmischung ausgesetzt. Dies bedeutet nicht, dass wir im Bankensektor keine Chancen finden. Die China Merchants Bank gehört zu den profitabelsten Banken.

«Wir schätzen auch andere Finanzbereiche wie zum Beispiel Versicherungen»

Sie hat ein starkes Privatkundengeschäft und eine zunehmend robuste Preismacht, nachdem sie ihr Mikro- und KMU-Kredit-Geschäft ausgebaut hat. Die Bank wird zwar immer noch von der Regierung kontrolliert, wurde aber seit ihrer Gründung vom Staat ermutigt, gewinnorientiert zu arbeiten. Ping An Bank ist eine weitere mittelgrosse Bank mit einem beeindruckenden technologischen Vorsprung.

Wir schätzen auch andere Finanzbereiche wie Versicherungen – zum Beispiel Ping An Insurance –, bei denen wir bei noch niedrigen Marktdurchdringungsraten Chancen für langfristiges Wachstum sehen. Insgesamt bleiben wir jedoch im Finanzsektor zugunsten der unseres Erachtens aussichtsreicheren New-Economy-Bereiche des Marktes untergewichtet.


Rebecca Jiang ist Co-Portfoliomanagerin für China und China A-Aktienfonds im Emerging Markets and Asia Pacific (EMAP) Equities Team bei J.P. Morgan Asset Management. Sie stiess 2017 zum Unternehmen und arbeitet in Hongkong. Zuvor war sie sechs Jahre bei Fidelity International tätig. Sie hat einen BA in International Finance und einen Master in Finance von der Fudan University.

Howard Wang ist Co-Portfoliomanager für China und China A-Aktienfonds im Emerging Markets and Asia Pacific (EMAP) Equities Team bei J.P. Morgan Asset Management. Er stiess 2005 zum Unternehmen und arbeitet in Hongkong, wo er die Greater China Investmentteams in Hongkong, Shanghai und Taipeh verantwortet. Zuvor arbeitete er acht Jahre bei Goldman Sachs als Geschäftsführer und Leiter des Büros in Taiwan. Er erhielt einen BA summa cum laude in Wirtschaftswissenschaften an der Yale University.

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