Wer heute monetäre Interessen in den Vordergrund rücke und nicht bereit sei, sich auf Neues einzulassen und die Extrameile zu gehen, dürfte in der Finanzindustrie Schiffbruch erleiden, erklärt Silvia Helbling vom Swiss Finance Institute im Interview mit finews.ch.


Frau Helbling, nach einem sehr guten Jahr 2021 muss sich die Bankbranche nun einem «perfekten Sturm» aussetzen. Wird dies die oft zitierte Konsolidierung im Finanzsektor beschleunigen?

Die Branchenkonsolidierung hat ja bereits vor geraumer Zeit eingesetzt – die Zahl der Schweizer Banken sinkt stetig. Naturgemäss trifft es zuerst die kleineren Finanzinstitute. Sie generieren weniger Skaleneffekte, sind der zunehmenden Regulierungsdichte überproportional ausgesetzt und partizipieren unterproportional an den Chancen der Digitalisierung. Die aktuellen Herausforderungen akzentuieren diesen Prozess zusätzlich.

Die Zinsen steigen. Ist das Fluch oder Segen für die Banken?

Steigende Zinsen sind grundsätzlich positiv für Banken, da ihr Nettozinseinkommen damit deutlich ansteigen dürfte. Pauschal lässt sich das aber nicht beantworten. Die Strukturen des Aktiv- und des Passivgeschäfts der verschiedenen Schweizer Banken unterscheiden sich signifikant.

«Junge Talente fordern neue Arbeitsplatz- und Arbeitszeitmodelle ein»

Es stellt sich die Frage, wie genau die Einlagen- und Kreditkonditionen im Rahmen der Zinserhöhungen angepasst wurden respektive welche Laufzeitenstrukturen den Portfolios zugrunde liegen. Nicht zu vergessen sind die Risiken im Kreditgeschäft, nebst dem Ausfallrisiko auch das Umwelt- und Reputationsrisko. Die aktuellen Zins- und Inflationsentwicklungen sind Themen, die wir am Swiss Finance Institute (SFI) aus finanzwissenschaftlicher Optik sehr genau beobachten.

Was sind aus Ihrer Sicht und aufgrund der neusten Umfrage zu den Berufsaussichten die grössten Veränderungen im Berufsbild der Bankbranche, nachdem viele Beschäftigte bloss noch zu Hause gearbeitet hatten?

Die verschiedenen Berufsbilder haben sich im Wesentlichen nicht verändert, jedoch deren relative Gewichtung. Zugenommen haben hingegen in der Pandemie die Anforderungen an die Beschäftigten hinsichtlich Flexibilität und Agilität. Rückblickend ist das eine positive Entwicklung, denn gerade junge Talente fordern neue Arbeitsplatz- und Arbeitszeitmodelle ein – dazu gehört auch der Wegfall formaler Aspekte.

Die Branche ist insofern auf dem richtigen Weg. Das unterstreichen auch die tollen Resultate unserer Umfrage. Noch nie seit Beginn derselben im Jahr 2012 wurden die Berufsaussichten in der Finanzindustrie positiver eingeschätzt.

In der Pandemie haben viele Beschäftigte die Arbeit im Büro vermisst, nun scheint das Gegenteil einzutreffen. Die Leute wollen lieber zu Hause bleiben. Fast ein Drittel will bloss von daheim aus arbeiten. Wie realistisch ist das?

Das hängt letztlich von verschiedenen Faktoren ab. Klar ist aber, dass soziale Kontakte am Arbeitsplatz oder die direkte – auch informelle – Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen im Home Office nicht oder nur beschränkt stattfinden können.

«Entspannt hat sich offenbar die Nachfrage nach Themen, die im Bereich der Softskills angesiedelt sind»

Positiv zu bewerten ist hingegen der Umstand, dass neue Arbeitsplatzmodelle Freiräume schaffen, die lange Zeit undenkbar waren. Ich gehe davon aus, dass sich mit der Zeit eine vernünftige Balance zwischen Büropräsenz und Homeoffice einpendeln wird.

Was war für Sie sonst noch die grösste Überraschung in den Ergebnissen der jüngsten Umfrage?

Nach der Beruhigung der Corona-Situation beobachten wir eine Rückbesinnung auf Weiterbildungsthemen, die bereits vor der Pandemie auf ein grosses Interesse gestossen sind. Deutlich entspannt hat sich dafür offenbar die Nachfrage nach Themen, die im Bereich der Softskills angesiedelt sind.

«Die Finanzbranche verfügt bereits über attraktive Lohnstrukturen, das wird wohl niemand in Zweifel ziehen»

Für uns als Forschungs- und Bildungsinstitut auch sehr erfreulich ist der Umstand, dass die Finanzbranche mehr denn je auf hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzt, was sich in einem grossen Zuspruch unserem Angebot gegenüber manifestiert.

Viele Beschäftigte sehen zunehmend mehr Berufschancen in banknahen Bereichen. Äussert sich diese in irgendeiner Weise auch in der Nachfrage nach Ihren Weiterbildungskursen und -modulen?

Unter «banknahen» Bereichen verstehen wir am SFI insbesondere auch sogenannte «Frontier Topics», die beispielsweise im Umfeld der Digitalisierung oder anderer Trendthemen angesiedelt sind. Und ja, selbstverständlich haben wir diese sehr genau im Blick, was sich in praktisch allen Themen der SFI Master Classes zeigt.

Dienstleistungs- und Produkteinnovationen stossen unter den Beschäftigten auf wachsendes Interesse. Geht das Swiss Finance Institute darauf ein?

Auch hier sind wir sehr nahe am Puls der Finanzbranche: Machine Learning und Artificial Intelligence sind nur zwei Beispiele, die wir aufgreifen und die überaus stark nachgefragt werden.

Wie weit geht für Sie persönlich die Digitalisierung im Banking – und wo wird es immer physische Betreuung geben müssen?

Die persönliche Interaktion ist immer dann angebracht und notwendig, wenn sie für die Kundinnen und Kunden einen echten Mehrwert generiert, typischerweise im Beratungsprozess in höheren Kundensegmenten. Hingegen können zahlreiche standardisierte Bankdienstleistungen heute deutlich effizienter über digitale Tools angeboten werden, was insbesondere auch von einer jungen – und in der Regel technikaffinen – Kundengeneration erwartet wird.

Wir sprechen hier aber von einer dynamischen Entwicklung, deren Ende noch nicht absehbar ist. Das hat sich auch in unserer Digitalisierungsstudie gezeigt, die wir in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen Zeb erarbeitet haben.

Gehen Sie aufgrund der Antworten in unserer Umfrage davon aus, dass die Löhne in der Bankbranche den Zenit überschritten haben?

Die Finanzbranche verfügt bereits über attraktive Lohnstrukturen, das wird wohl niemand in Zweifel ziehen. Aber die Anreizsysteme verändern sich. Neben der Individualleistung fliessen zunehmend auch Teamziele in die Vergütung ein. Das ist eine gute Entwicklung, wie ich finde.

«Sie finden kaum eine Branche, die eine solch rasante Entwicklung anzubieten hat»

Am Ende des Tages zählen Qualifikation und Expertise – zwei Erfolgsfaktoren, die auch in Lohnverhandlungen ins Gewicht fallen und die von den Beschäftigten selber über eine permanente Weiterbildung stark beeinflusst werden können.

Viele junge Studienabgänger entscheiden sich heute für andere Branchen als den Finanzsektor. Gehen wir einmal davon aus, dass die Löhne kaum weiter steigen und die Boni tendeziell eher zurückgehen werden, was kann dann noch der Anreiz sein, Karriere in der Bankbranche zu machen?

Ich kann alle Berufseinsteigerinnen und -einsteiger, die ihren beruflichen Weg in der Finanzindustrie gehen wollen, an dieser Stelle nur ermuntern: Sie finden kaum eine Branche, die eine solch rasante Entwicklung und derart grosse Vielfalt an herausfordernden und spannenden Berufsbildern anzubieten hat.

Zudem ist das Lohnniveau im Vergleich zu anderen Branchen bereits relativ hoch – dafür wird aber auch viel erwartet. Wer also monetäre Interessen in den Vordergrund rückt und nicht bereit ist, sich auf Neues einzulassen und die Extrameile zu gehen, dürfte in der Finanzindustrie Schiffbruch erleiden.


Silvia Helbling, Head Knowledge Exchange and Education am Swiss Finance Institute (SFI), studierte an der Universität Zürich (lic.oec.publ) und promovierte an der University of York in Grossbritannien auf den Gebieten der Preisbildung am Finanzmarkt und der Informationsökonomie. Ihre beruflichen Erfahrungen sammelte sie in diversen Banken sowie im Rohwarenhandel, bevor sie sich vor mehr als 20 Jahren der Erwachsenenbildung zuwandte. Dort prägte sie in unterschiedlichen Führungspositionen die Entwicklung strategischer Initiativen.