Bei naiver oder unvorsichtiger Anwendung in geschäftsrelevanten Bereichen könne Künstliche Intelligenz enormen Schaden anrichten, sagt Finanzprofessor Norman Schürhoff im Interview mit finews.ch. Der Revolut-Skandal sei ein gutes Beispiel dafür.


Herr Professor Schürhoff, was ist Ihr Beitrag zu den «Master Classes» des Swiss Finance Institute (SFI)?

Ich mache Kaderleute aus dem Bankwesen mit Maschine Learning und Artificial Intelligence (ML/AI) vertraut. Zielgruppe sind Mitarbeitende, die entweder bereits mit ML/AI in Berührung gekommen sind und mehr darüber erfahren möchten, oder die einfach nur wissen wollen, worum es geht.

Meine Co-Instruktorin Annika Schroeder von der UBS und ich beginnen mit den Grundlagen von ML/AI und bauen das Wissen auf, damit die Teilnehmer die Master Class mit einer kritischen Einstellung verlassen können.

Wir konfrontieren die Teilnehmer auch schnell mit realen Geschäftsszenarien, in denen ML/AI angewendet wird und hilfreich sein kann. Wir veranschaulichen, warum und wo das Verständnis von ML/AI entscheidend ist (Eine weitere Master Class findet am 6. Mai 2020 statt).

Warum haben Sie ausgerechnet dieses Thema gewählt?

Auf diesem Gebiet spielt sich eine Revolution ab. ML/AI gelten als das neue «Internet» für fortgeschrittene Analysen, Automatisierung, Preisgestaltung und andere Aspekte. Das internationale Beratungsunternehmen Gartner schätzt, dass die Akzeptanz von ML/AI in der Wirtschaft in allen Branchen bis 2022 mehr als 75 Prozent betragen wird. Das Finanzwesen bildet da keine Ausnahme. Allerdings liegen die Banken in diesem «Rennen» enorm im Rückstand.

Warum?

Das Strategieunternehmen McKinsey stellte beispielsweise fest, dass mehr als 50 Prozent der grossen Datenprojekte in der einen oder anderen Form scheitern. Viele Unternehmen haben entweder keine ausgereifte Analysestrategie, oder es besteht eine Verständnislücke. Diese Lücke zwischen Analytik und Geschäft muss sich schliessen.

Die Finanzwissenschaft kann sie füllen. In meiner Forschung untersuche ich sowohl die Bedürfnisse und das Verhalten von Unternehmen als auch die Anwendung fortgeschrittener Datenanalysen. Dabei stelle ich mich an die Schnittstelle zwischen Analytik und Unternehmensberatung, mehr als vielleicht ein typischer Linienmanager in einer Bank.

Worin liegt langfristig gesehen der Mehrwert von Künstlicher Intelligenz?

ML/AI entwickelt sich fortlaufend weiter. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass ML/AI am besten in daten-/informationsgesteuerten Unternehmen wie Banken funktioniert. Darüber hinaus hat die ML-/AI-Technologie inzwischen eine kritische Masse erreicht.

Insofern ermutige ich die Kursteilnehmenden, in ihrer eigenen Organisation entsprechende Kompetenzen aufzubauen und zu lernen, wie man intelligente Menschen mit intelligenten Maschinen kombinieren kann – und so ganze Unternehmen zukunftssicher zu machen.

Wo fliessen ML/AI bereits in unseren Alltag ein?

Eine App auf meinem Handy sagt mir, welchen Weg ich einschlagen muss, um von A nach B zu gelangen, und wie lange ich dafür brauche.

Meine Online-Shopping-Websites wiederum wissen dank den Algorithmen des Systems was ich mag, brauche und allenfalls auch noch kaufen möchte. Im schlimmsten Fall erhöht die Webseite den Preis kurz bevor ich etwas erwerben will – ich frage mich, warum... Bald wird sich auch mein Kühlschrank laufend von selber wieder füllen.

Zurück zur Finanzbranche, was sind da die bisherigen Anwendungsfelder?

Mit ML/AI lassen sich Dienstleistungen verbilligen, vermehren, verbessern, und man kann neue entwickeln. Im Finanzwesen sehe ich vor allem fünf Anwendungsfelder:

  • Intelligente Automatisierung hilft, die Effizienz des Mid- und Back-Office zu verbessern, etwa für Frühwarnsysteme, in der Compliance und regulatorischen Berichterstattung sowie in der Transaktionsabwicklung.
  • Die zweite Kategorie nenne ich Business Intelligence und kognitive Verbesserungen. Dazu gehören ML/AI-Anwendungen, um die Kundenbedürfnisse besser zu verstehen und die Kundeninteraktionen zu optimieren.
  • Die dritte Säule ist so etwas wie die Wissensausweitung. Sie umfasst die Anlageforschung, Unternehmensanalysen und juristische Abklärungen.
  • Neu hinzugekommen sind ML/AI-Anwendungen für die Ideengenerierung, für «intelligentes» Alpha und Risikobegrenzung. Quantitatives Anlage- und Risikomanagement, Handelsempfehlungen und Kundenberatung fallen in diese Gruppe.
  • Schliesslich sind neue ML-/AI-fähige und -basierte Geschäftsmodelle immer noch die «Musik der Zukunft».

Was sind die sogenannten Gamechanger in Bezug auf die künstliche Intelligenz?

Zu den externen gehören zweifelsohne die Regulierung und der Margendruck. Im gegenwärtigen Niedrigzinsumfeld sind die Banken einem enormen Margendruck ausgesetzt, weil ihre klassischen Geschäftsmodelle nicht mehr so profitabel sind wie früher. Neue Marktteilnehmer, insbesondere aus dem ML/AI-Bereich, üben in diesem Kontext einen enormen Wettbewerbsdruck aus.

Mittelfristig wird die Finanzbranche den Wert der Daten, die sie besitzt besser verstehen und ausloten müssen. Denn letztlich sind Banken Datenunternehmen mit einer Banklizenz. Doch sie müssen die Tatsache, dass ihre Wertschöpfungskette auf Daten beruht, viel besser verinnerlichen. Vorläufig sind sie noch zu wenig «technologisch». ML/AI können zu den Katalysatoren eines Ökosystems werden, das den Bedürfnissen der Kunden besserer, sicherer und vielfältiger entspricht.

Die Technologie im Bankwesen ist noch immer sehr eingeschränkt, veraltet, in Silos organisiert und reguliert. Die Bank der Zukunft wird ganz anders aussehen.

Gibt es in der Anwendung von ML/AI Unterschiede zwischen amerikanischen und Schweizer Banken?

Die amerikanischen Banken sind in einigen Bereichen deutlich weiter fortgeschritten als die Schweizer Banken, insbesondere wenn es um ML/AI in den Kernkompetenzen geht. Einige US-Banken haben bereits Hunderte von Millionen Dollar in die Entwicklung von ML/AI-Anwendungen investiert.

Dennoch haben die Schweizer Banken gute Gründe, vorsichtig zu sein. Gerade in geschäftsrelevanten Bereichen kann ML/AI bei naiver oder unvorsichtiger Anwendung enormen Schäden anrichten. Der Revolut-Skandal ist ein gutes Beispiel dafür.

Wo sehen Sie Raum für Weiterentwicklungen von ML/AI?

Deep Learning und neuronale Netze bewähren sich in Anwendungen im Google-Stil, wie in der Gesichtserkennung. Im Kontext der Finanzmärkte ist es hingegen unklar, wie diese Technologien einen Mehrwert schaffen können, zumal die Märkte mit ihren Millionen von Teilnehmern mit höchst unterschiedlichen Präferenzen, Know-how und Raffinesse recht komplex sind. Die stochastische Natur der Interaktionen an den Börsen trotzt den Gesetzen der Physik.

Auf lange Sicht kann die Finanzbranche aber durchaus ihre eigenen Instrumente und Techniken entwickeln, die speziell auf das Verständnis der Märkte ausgerichtet sind. Die Finanzwelt braucht ihre eigenen Methoden. Aber so weit sind wir noch nicht.

Was sind die Ergebnisse Ihrer jüngsten Forschung?

In einem meiner Forschungsprojekte zeige ich auf, wie ML/AI den Handel mit Finanztiteln revolutioniert. Der algorithmische Hochfrequenz-Handel ist seit langem ein integraler Bestandteil liquider Märkte.

«In einem Forschungsprojekte untersuchen wir, ob eine Maschine einen Finanzchef ersetzen kann»

In einem anderen Forschungsprojekte untersuchen wir, ob eine Maschine den Finanzchef (Chief Financial Officer, CFO) eines Unternehmens ersetzen kann.

Das müssen Sie noch etwas genauer erklären.

Die Rolle eines CFOs besteht darin, den CEO in allen finanziellen Angelegenheiten zu beraten und die optimale Kapitalstruktur und Finanzierungspolitik zu finden. So, wie ein Computer von «menschlichen» Fahrern lernen kann, wie man ein Auto am besten steuert, kann im Prinzip ein Computer auch vom Verhalten vieler CFOs lernen und so die finanzielle Führung eines Unternehmens zu einem grossen Teil übernehmen.


Norman Schürhoff ist Professor für Finanzen an der Universität Lausanne. Seine wissenschaftliche Arbeit ist bereits in den führenden akademischen Zeitschriften gewürdigt worden. Er hat auch schon mehrere renommierte Publikationspreise gewonnen. Er ist sechsfacher Gewinner der CFA Institute Research Challenge in der Schweiz und war deren Weltmeister 2018. Seine Hauptforschungsinteressen liegen in den Bereichen Finanzintermediation, Unternehmensfinanzierung, Corporate Governance und Asset Pricing.

In laufenden Forschungsarbeiten untersuchen Schürhoff und sein Team den Markt für Gemeindeanleihen – dem grössten und wichtigsten Kapitalmarkt für staatliche und kommunale Finanzierungen in den USA. Mit «grünen» Anleihen, die aufgrund der starken Nachfrage der Investoren mit einem Aufschlag ausgegeben werden, hat der Markt für Kommunalanleihen die Entwicklung verantwortungsbewusster Investitionen vorgepfadet.