Alain Krapl: «Die Wahrnehmung entspricht nicht immer der Realität»
Der Schweizer Finanzplatz sollte seinen Errungenschaften mehr Sorge tragen und sie mitunter aktiver positionieren, sagt Alain Krapl, Ausbildungsexperte beim Swiss Finance Institute, im Interview mit finews.ch. Denn Stabilität allein genüge nicht mehr, die Branche müsse auch agil und veränderungsfähig sein.
Herr Krapl, die neuste Umfrage zu den Berufsaussichten in der Schweizer Finanzbranche zeigt, dass sich die Einschätzungen der Berufsleute stabilisiert haben – aber auf einem verhaltenen Niveau. Ist diese neue «Normalität» in der Branche Ausdruck realistischer Erwartungen oder ein Zeichen struktureller Stagnation?
Eine strukturelle Stagnation vermag ich nicht zu erkennen, denn wir dürfen nicht vergessen: Die Finanzindustrie befindet sich nach wie vor in einem technologischen und regulatorischen Transformationsprozess.
In dieser Phase sind stabile, wenngleich verhaltene Berufsaussichten vielmehr Ausdruck einer reflektierten Wahrnehmung der Realität.
Rund ein Drittel der Befragten bezeichnet die Berufsaussichten als «mittelmässig». Was müsste konkret passieren, damit die Schweizer Finanzbranche wieder als klar zukunftsträchtig wahrgenommen wird?
Ich bin davon überzeugt, dass die Schweizer Finanzindustrie immer noch gut aufgestellt ist. Wir verfügen gegenüber konkurrierenden Finanzplätzen über zahlreiche Wettbewerbsvorteile.
«Es entstehen zwar neue Stellenprofile, doch ob diese Rollen langfristig Bestand haben, ist unklar.»
Dazu gehören insbesondere hervorragend qualifizierte Mitarbeitende, die politische und wirtschaftliche Stabilität sowie die ungebrochene Innovationskraft der Branche.
Natürlich entspricht die breite Wahrnehmung nicht immer der Realität und ist aktuell sicherlich auch von den globalen Entwicklungen über die Finanzindustrie hinaus geprägt. Umso bedeutsamer ist eine klare strategische Kommunikation, die zeigt, dass der Schweizer Finanzplatz nicht nur stabil, sondern auch agil, sprich veränderungsfähig, ist.
Gleichzeitig müssen wir in den zentralen Dimensionen von Qualifikation, Innovation und Regulation wettbewerbsfähige und ausgewogene Rahmenbedingungen sicherstellen.
Die Umfrage zeigt weiter, dass Digitalisierung und ESG-Themen neue Jobprofile geschaffen haben. Welche Spezialisierungen bieten die besten Karriereperspektiven?
Die Dynamik im ESG-Bereich und der rasante Einsatz von KI-Technologien haben einen spürbaren Einfluss auf die Berufsperspektiven. Bereits kurzfristige Prognosen sind schwierig – mittelfristig, also mit Blick auf fünf Jahre, sind verlässliche Vorhersagen meines Erachtens sogar nahezu unmöglich.
Es entstehen zwar neue Stellenprofile, insbesondere im KI-Kontext, doch ob diese Rollen langfristig Bestand haben, ist unklar. Die Gefahr besteht, sich auf ein Berufsfeld zu spezialisieren, das sich rasch wieder verändert oder verschwindet.
Deshalb halte ich es für entscheidend, weniger auf kurzfristige Trends zu setzen, sondern auf eine breite, qualitativ hochwertige Ausbildung, die Anpassungsfähigkeit fördert.
«Neue Technologien haben schon immer Disruptionsängste ausgelöst.»
Wer fachlich solide aufgestellt ist und flexibel bleibt, kann mit Wandel besser umgehen – dieser Leitgedanke prägt auch die anwendungsorientierten Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote des Swiss Finance Institute (SFI).
Die gestiegene regulatorische Komplexität – etwa im ESG-Bereich – wird oft als Belastung betrachtet. Sehen Sie darin auch Chancen für neue Berufsbilder oder gar Standortvorteile für den Schweizer Finanzplatz?
Regulierung wird oft als eine Bremskraft wahrgenommen – das mag vorderhand natürlich auch durchaus zutreffen. Komplexität schafft aber auch Differenzierungsmöglichkeiten. Wer regulatorische Anforderungen effizient umsetzt, kann sich strategische Vorteile erarbeiten.
Zudem entstehen durch das sich rasch verändernde Umfeld tatsächlich neue Berufsbilder, wobei es – wie gesagt – sehr schwer ist vorherzusagen, welche dieser Funktionen mittelfristig Bestand haben werden.
Die Schweizer Bankenwelt hat aber erkannt, dass es sich lohnt, solche neuen Profile und Kompetenzen gezielt zu fördern, und es liegt in den Händen des SFI entsprechende Kompetenzen in Theorie und Praxis zu vermitteln.
Trotz technologischem Fortschritt scheint die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunftsaussichten sehr hoch zu sein. Wie gut ist die Branche auf disruptive Entwicklungen wie KI, Blockchain oder Tokenisierung vorbereitet?
Neue Technologien haben schon immer Disruptionsängste ausgelöst. In der Realität verlaufen solche Umbrüche meist langsamer und weniger problematisch als jeweils zu Beginn befürchtet wird.
Gerade in der IT zeigt sich, dass oft nicht die First Mover, sondern die strategisch und sorgfältig handelnden Akteure langfristig erfolgreicher sind. Viele Banken verfolgen genau diesen Weg. Ich halte das für einen klugen und erfolgversprechenden Ansatz.
Junge Talente wünschen sich «Purpose» und Nachhaltigkeit im Beruf. Kann die Schweizer Finanzbranche diesen Erwartungen gerecht werden?
Der Schweizer Finanzplatz hat hier viel zu bieten: von nachhaltigen Investitionsstrategien über Impact Investing bis zu technologischen Innovationen, welche die Finanzmärkte einer breiteren Bevölkerung zugänglich machen.
«Wer das beherzigt, dürfte in der Finanzindustrie seine berufliche Erfüllung finden.»
Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass auch klassische Bankdienstleistungen wie die Finanzierung von KMU oder die Vergabe von Hypotheken zentrale Voraussetzungen für viele gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch wünschenswerte Entwicklungen schaffen – etwa im Kampf gegen den Klimawandel, der ohne die Finanzwirtschaft nicht zu gewinnen ist.
Wenn Sie einem heutigen Schul- oder Studienabgänger einen Rat geben müssten: In welche Richtung innerhalb der Finanzbranche würden Sie ihm oder ihr raten zu gehen?
Die Berufsprofile innerhalb der Finanzindustrie sind dermassen vielfältig, dass ich mir nicht anmassen möchte, die eine oder andere Richtung zu favorisieren. Letztlich ist es wichtig, dass sich Schul- oder Studienabgänger umfassend mit den zahlreichen Möglichkeiten innerhalb der Finanzindustrie auseinandersetzen und diese mit den eigenen Interessen und Fähigkeiten abgleichen.
Klar ist auch, dass in der heutigen Bankenwelt gezielte und kontinuierliche Weiterbildungsaktivitäten, verbunden mit einem grossen persönlichen Engagement, unabdingbare Erfolgsfaktoren sind. Wer das beherzigt, dürfte in der Finanzindustrie seine berufliche Erfüllung finden.
Die internationalen Finanzplätze, zu denen auch die Schweiz mit Zürich Genf und Lugano zählt, stehen in einem harten Wettbewerb. Was muss die Schweiz am dringendsten unternehmen, um auch in Zukunft an der Spitze mithalten zu können?
Erfolgreiche Finanzplätze überzeugen im internationalen Wettbewerb mit Stabilität, Fachkompetenz und Innovationskraft. Die Schweiz verfügt über all diese Faktoren – muss diesen Errungenschaften aber Sorge tragen und sie – wie ich finde – aktiver positionieren.
«Für die glaubwürdige Ansprache der Generation Y und Z sind zweifellos neue Formate erforderlich.»
Dazu gehören steuerliche und regulatorische Rahmenbedingungen ebenso wie Investitionen in Forschung, Talente und Infrastruktur. Ein zentraler Erfolgsfaktor, zu welchem wir als SFI beitragen dürfen, bleibt natürlich die herausragende Qualifikation der Arbeitskräfte.
Unternehmen die Schweizer Banken genügend, um die «Next Generation» an Kundinnen und Kunden (Millennials/Generation Y sowie Generation Z) zu erreichen – oder wo und wie besteht Handlungsbedarf?
Für die glaubwürdige Ansprache der Generation Y und Z sind zweifellos neue Formate, neue Kanäle und vor allem ein echtes Verständnis des Wertekompasses dieser Zielgruppe erforderlich.
Was dabei oft übersehen wird: persönliche Sicherheit, Vertrauen und Stabilität sind für viele junge Menschen weiterhin zentral. Und genau dafür stehen die Banken in der Schweiz. Aus meiner Sicht ist das eine hervorragende Grundlage, auf der sich gezielt aufbauen lässt.
Alain Krapl ist seit Februar 2023 Head Knowledge Exchange and Education sowie Mitglied der Geschäftsleitung beim Swiss Finance Institute (SFI). Zuvor war er bereits eineinhalb Jahre als Director im Bereich Knowledge Exchange tätig. Der Finanzexperte verfügt über eine lange akademische Karriere in den USA. Seine Hochschulaktivitäten führten ihn unter anderem von der University of North Carolina at Charlotte über die University of Connecticut bis zur Northern Kentucky University, wo er zuletzt als Finanzprofessor in der Forschung und als Verantwortlicher für verschiedene Weiterbildungsangebote tätig war.