Gut möglich, dass EZB-Präsident Mario Draghi weitere Stimulationsmassnahmen bekanntgibt. Doch bei einer Zinssenkung, sollte die Schweiz nicht nachziehen, findet Mario Eisenegger von M&G.

Von Mario Eisenegger, Associate Investment Specialist bei M&G Investments, London

Sollte die Europäische Zentralbank (EZB) entweder ihre geldpolitischen Lockerungsmassnahmen ausweiten und/oder ihren negativen Einlagezins weiter senken, so muss sich auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) Gedanken machen. Ich bin wahrscheinlich nicht der einzige Schweizer, der sich Sorgen um eine Deflation hierzulande von -1,4 Prozent macht und gleichzeitig die Herausforderung sieht, den Wechselkurs wettbewerbsfähig zu halten.

Seit die SNB im vergangenen Januar die Euro-Untergrenze von 1.20 Franken aufgab, war eine deutliche Aufwertung der als sicherer Hafen geltenden Währung unvermeidlich. Der Euro kostet derzeit 1.10 Franken. Angesichts einer Kaufkraftparität von ungefähr 1.25 Franken ist die Schweizer Währung aber immer noch hoch.

Der wichtigste Handelspartner der Schweiz

Die Folgen sind in vielen Bereich sichtbar, schliesslich ist Europa der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Ungefähr die Hälfte der Schweizer Exporte gehen in die Eurozone. Vor dem Hintergrund dieser Abhängigkeit ist die Erwartung offensichtlich, dass die SNB einer potenziellen Senkung der Einlagezinsen durch die EZB folgen und die eh schon negative Rate von -0,75 Prozent für Sichteinlagen von Banken und anderen Teilnehmern am Finanzmarkt kürzen sollte.

In meinen Augen müssen folgende Punkte berücksichtigt werden, da sie eine solche Reaktion der SNB alles andere als sicher machen.

Die Schweiz hat in der Vergangenheit mit allzu langen Phasen lockerer Kreditvergabe-Standards erhebliche Probleme bekundet. In der Bankenkrise der 1990er-Jahre beispielsweise erlebten wir eine gemessen an historischen Standards enorme Zunahme der Kreditvergabe, vor allem im Vergleich zur wirtschaftlichen Aktivität.

Viele Regionalbanken von den Zinsen abhängig

Die Schweiz wird von einer Bankenkrise auch deshalb härter getroffen als andere Länder, da der Bankensektor des Landes sehr gross ist: Rund 275 Banken sind rechtlich anerkannt, und der Sektor trägt rund sechs Prozent zum Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP) bei. Rechnet man noch die Versicherungen hinzu, steigt dieser Anteil gar auf zehn Prozent. Wichtig ist ausserdem, dass vor allem die regionalen Banken ausgesprochen stark vom Zinsdifferenz-Geschäft abhängen.

Die SNB hat in ihrem Bericht zur Finanzstabilität wiederholt davor gewarnt, dass Banken mit einem Fokus auf ihrem Heimatmarkt unter Umständen zu wenig Diversifikation und zu viel Zinsrisiko in ihren Bilanzen haben könnten.

Der letzte Bericht zur Finanzstabilität deutet auch an, dass sich das direkte Zinsrisiko inländisch-orientierter Banken auf einem hohen Niveau befindet, was wiederum ein Ungleichgewicht zwischen der Restfälligkeit von Aktiva und Passiva zur Folge hat.

Wahrscheinlichkeit einer weiteren Bankenkrise steigt

Die niedrigeren Einlagezinsen machen es noch attraktiver für Banken, überschüssige Reserven mit relativ annehmbaren Spreads zu verleihen, anstatt sie bei der SNB mit Negativzinsen zu verwahren. Im Jahr 2014 würden die kalkulatorischen Kosten für 42 Prozent der neuen Hypotheken den allgemeinen Höchstwert eines Drittels der Bruttolöhne oder des Renteneinkommens überschreiten.

In Kombination mit dem sehr hohen Anteil an den Darlehen mit kurzen und mittelfristigen Laufzeiten, die von einer Zinserhöhung entsprechend betroffenen wären, deutet sich ein Erschwinglichkeits-Risiko im Schweizer Hypothekenmarkt an: Zu niedrige Einlagezinsen dürften die Verschuldung im privaten Sektor nach oben treiben und die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Bankenkrise erhöhen. Die SNB wird sich dessen sehr wahrscheinlich bewusst sein.

Banken geben negative Zinsen weiter

Die grossen Schweizer Banken haben zwar als Reaktion auf die negativen Einlagezinsen der SNB bereits eine individuelle Hinterlegungsgebühr für grosse Konto-Guthaben von Unternehmen und institutionellen Kunden eingeführt. Sie haben sich aber bis dato einer direkten Weitergabe der Negativraten an die Sparer verweigert.

Hier äussert sich die Angst, in einem konkurrenzstarken Umfeld Kunden zu verlieren. Der Trend könnte allerdings auch zu einem Ende kommen, da die Margen deutlich geschrumpft sind und das Umfeld für Zinsdifferenz-Geschäfte immer schwieriger wird.

Ersparnisse besser ins Schliessfach?

Tatsächlich hat die Alternative Bank Schweiz (ABS) als erste Schweizer Bank unlängst einen negativen Zinssatz von -0,125 Prozent für die Giroguthaben von Privatkunden ab dem 1. Januar 2016 angekündigt. Für Einlagen von mehr als 100’000 Franken gibt die Bank sogar den vollen negativen Zinssatz von -0,75 Prozent weiter.

Eine weitere Zinssenkung könnte andere Banken folgen lassen. Unter Umständen könnte eine solche auch Kunden dazu ermutigen, Ersparnisse in Schliessfächern oder anderswo zu verwahren.

Wie würde es Ihnen denn gefallen, neben den monatlichen Kontoführungs-Gebühren auch noch negative Zinsen zu zahlen? Die Aufbewahrung von Bargeld ist riskant – es ist nicht versichert und kann gestohlen werden – und teuer für die Volkswirtschaft: Denn Geld unter der Matratze der Kunden lässt sich nicht (mehr) verleihen.

Der Euro ist wichtig, aber...

...die SNB kann sich ebenfalls auf andere Währungen konzentrieren. Es ist wahr, dass die meisten Schweizer Exporte Richtung Eurozone gehen. Die Importe aus der Eurozone haben aber ein sogar noch grösseres Volumen.

Mit Blick auf die Nettoexporte sind China, Indien und die USA die wichtigsten Partner. Im Anschluss an die angriffslustige Tonlage der US-Notenbank Fed Oktober haben sich die Erwartungen an eine Zinserhöhung im Dezember stark verdichtet. Zudem hat der Dollar gegenüber dem Franken seit Mitte Oktober um mehr als 7 Prozent zugelegt und Schweizer Produkte für den US-Markt verbilligt.

Der Dollar ist nun wieder auf jenem Niveau, als die SNB ihre Währungsanbindung zum Euro aufkündigte. Durch die enge Anbindung des chinesischen Renminbi an den Dollar haben ähnliche Kursbewegungen zu einem Wechselkurs Renminbi/Franken geführt, der nur marginal niedriger ist als zu Jahresbeginn, als die Schweizer Währungskopplung zum Euro noch existierte. Die SNB wird die starke Abwertung des Franken zu seinen wichtigsten Handelspartnern willkommen heissen, da sich durch sie weitere Stimuli erübrigen.

Weitere Interventionen wahrscheinlicher

Mit dem Blick nach vorn und dem Versuch, die nächsten Schritte der SNB vorauszusehen, lohnt es sich, auf die erstaunliche Widerstandsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft hinzuweisen. Trotz der vielfachen Herausforderungen liegt das jährliche Wachstum immer noch im positiven Bereich.

Das weltweite Wachstum wird auch der Schweiz helfen, durch diese schwierigen Zeiten zu navigieren und die Auswirkungen eines überbewerteten Franken abzudämpfen. Der jüngste Fall des Franken gegenüber dem Dollar und dem Renminbi gibt den Schweizer Behörden etwas Raum zum Atmen und reduziert den Druck auf die Währungsbewertung.

Der Umfang der SNB-Bilanz ist infolge der Marktinterventionen angsterregend. Die Devisenreserven machen 80 Prozent des Schweizer BIP aus. Dieses Volumen ist enorm, bedenkt man, dass die Devisenreserven Grossbritanniens etwa sechs Prozent des BIP ausmachen.

Diversifikation ist der Schlüsselfaktor

Dessen ungeachtet ist nicht die Grösse, sondern die Diversifikation der Reserven der Schlüsselfaktor: Die SNB kann das Wechselkurs-Risiko gegenüber dem Franken nicht absichern, ohne die Effekte der Geldpolitik zu neutralisieren. Die SNB hat in den letzten schwierigen Jahren gute Arbeit dabei geleistet, ihr Euro-Engagement über andere Währungen zu streuen.

Dies gesagt, kann und wird die SNB bei Bedarf in den Markt eingreifen. Sie würde dann weiter Euro kaufen, anstatt die Einlagezinsen immer weiter ins Negative zu treiben. Letztere Massnahme würde die Schweizer Wirtschaft stärker dem unerprobten und unkonventionellen Geldmarkt-Instrument der Negativzinsen aussetzen.

Was macht Mario Draghi?

Ich glaube ausserdem nicht, dass eine Kürzung des Einlagezinses durch die EZB garantiert ist. Die Sitzung der EZB findet zwei Wochen vor der Entscheidung der US-Notenbank statt, und ich denke, dass Mario Draghi für eine Wertsteigerung des Euro gegenüber dem Dollar gerüstet sein will, sollte die amerikanische Zentralbank entgegen den Markterwartungen die Zinsen unverändert belassen. Alles in allem erwartet die Zentralbanker ein ereignisreicher Jahresausklang.