In der Pause treiben die Kongressteilnehmer mit Schwarmintelligenz über die Teppiche und aneinander vorbei. Gemütlich wirkt keiner, gesellig auch nicht. Müsste ein Begriff gefunden werden, der auf alle zutrifft – wachsam wäre das Wort. «Das Wichtigste in unserem Beruf ist, um die Ecke sehen zu können», sagt ein Mercuria-Mann. Und in die Zukunft. Bereits wird über die Ernte 2013 spekuliert, obwohl die Böden noch gefroren sind.

Die wenigen Frauen sehen nach persönlichem Fitness-Trainer und teuren Airport-Käufen aus. Hier eine Hermès-Tasche aus Paris, dort ein Donna-Karan-Blazer aus New York. Schweizer gibt’s – ausser ein paar Bankern – kaum. Pictet und die Crédit Suisse schickten je fünf Leute, die Zürcher und die Genfer Kantonalbank je zwei. Der Rohstoffhandel liegt fest in den Händen von Nordamerikanern und Russen, Norwegern, Engländern, Holländern, Franzosen und Kanadiern.

Der Lausanner Event und seine zahlreichen Gegenveranstaltungen hinterliessen in der Schweizer Presse kaum Spuren. Abgesehen natürlich von der «WOZ», wo das Thema Pflichtstoff ist. Die «Weltwoche» nutzte in bewährter Manier die Gelegenheit, um das Gegenteil zu behaupten und Rohstoff-Spekulanten «nützlich» zu finden. Schliesslich bringen sie den Weizenbauern mit dem Bäcker zusammen und sorgen für den richtigen Preis. Dass sich dieser Preis im letzten Jahr verdoppelt hat, führt das Blatt darauf zurück, dass jetzt auch die Schwellenländer Steaks essen wollen.

Oliver Classen von der NGO Erklärung von Bern wundert das Desinteresse am Rohstoffhandel nicht: «Niemand hat eine Ahnung.» Ständig ändern die Geschäftsmodelle, immer komplizierter werden die Konstrukte. Längst geht es nicht mehr nur um Kaufen, Transportieren und Verkaufen von Ware. Dafür ist die reine Händlermarge viel zu niedrig. Beim Rohöl, beispielsweise, beträgt sie höchstens 1 Prozent. Wirklich verdienen lässt sich nur «upstream», an der Quelle, der Rohstoff-Lagerstätte. Aus diesem Grund besitzen heute die meisten Rohstoff-Giganten ihre eigenen Minen, Ölfelder und Äcker, so gross wie Schweizer Kantone.

Die Erklärung von Bern ist als einzige NGO am Lausanner Rohstoffgipfel zugelassen. Die «Financial Times» schätzt das Fachwissen der Organisation durchaus, denn diese verfolgt den Rohstoffhandel schon lange. 2008 überreichte sie Ivan Glasenberg, Glencore-Boss, den Schandpokal Public Eye Award für besonders unverantwortliche Geschäftspraktiken. Damals besass der heute drittgrösste Schweizer Konzern noch keine PR-Abteilung. Als die Überbringer in seinem Zuger Firmensitz klingelten, öffnete die – vom Geschehen sichtlich überforderte – Personalchefin.

Drei Jahre später wollte Ivan Glasenberg ein paar Schweizer Eingeborene kennenlernen. Die Zusammenführung besorgte der freisinnige Zürcher Nationalrat Ruedi Noser. Noser macht auf Rohstoff-Experte, seit er in einer Fernsehdiskussion die Sicht der Rohstoffhändler vertrat. Einen wirklichen Insider hatte das Fernsehen nicht auftreiben können. Die Begegnung zwischen dem gebürtigen Südafrikaner Glasenberg und den Schweizern im Berner Hotel Bellevue eskalierte, als sich SP-Nationalrätin Jacqueline Badran echauffierte: «Und wo bezahlen Sie Steuern? In der Schweiz oder Sambia?» Glasenbergs kühle Antwort: «Weder noch.» Der Satz machte so viele Schlagzeilen wie das V-Zeichen des Bankers Josef Ackermann nach seinem Gerichtsauftritt.

2011 gab die Erklärung von Bern das Buch «Rohstoff – das gefährlichste Geschäft der Schweiz» heraus. Trotz dem spröden Thema wurde es auf Anhieb zum Bestseller und löste an die dreissig parlamentarische Vorstösse aus. Der Grund des Erfolgs liegt nicht nur in seiner griffigen Sprache und gründlichen Recherche. Er liegt auch in der Aufmachung. Statt als lustlose NGO-Schrift, präsentiert sich das Buch elegant und grafisch sinnlich gestaltet. Zum ersten Mal erfuhr die Eidgenossenschaft, dass über ein Fünftel des gesamten Rohstoffhandels über die Schweiz läuft. Dass sechs der zehn weltgrössten Rohstoffhändler hierzulande sitzen: Glencore in Zug, Trafigura in Luzern, Vale im Waadtländer Saint-Prex und Mercuria, Vitol und Cargill in Genf. Alle schätzen die Schweizer Neutralität, die rekordtiefen Steuersätze und das Wohlwollen, das ihnen die hiesigen Politiker entgegenbringen. Letzteres geht so weit, dass ihnen lange gestattet war, bezahlte Schmiergelder vom steuerbaren Gewinn abzuziehen.

Das Wohlwollen hat Gründe. Der Rohstoffhandel ist zu praktisch, ja geradezu massgeschneidert für ein kleines Land wie die Schweiz. Erstens schmutzt er nicht: Dreck und Umweltgifte bleiben in den Förderländern. Zweitens braucht er keinen Platz. Die höchstens 10 000 Angestellten erwirtschaften in ihren Büros so viel Umsatz wie die Schweizer Maschinenindustrie: 3000 Milliarden Franken jährlich. Und drittens: Er ist CO2-neutral. Die Ware rollt nicht in Tanks durch unser Land, sondern flimmert in Form von Zahlen über Bildschirme.

So volatil wie ihr Geschäft, so ungreifbar auch die Konzerne selbst. Es sind verschachtelte Reissbrett-Konstruktionen, scheinbar aus dem Nowhere kommend, ohne Heimat und Nationalität. Je nach Bedarf geben sie sich bald holländisch, bald schweizerisch, heute vielleicht französisch, morgen doch lieber britisch. Eine Lobby im Parlament benötigen sie nicht. Wollen sie jemanden sprechen, zitieren sie ihn herbei. So wie jenen Genfer Stadtrat, der zu grosses Verständnis für die EU-Attacken auf den milden Genfer Steuersatz gezeigt hatte. Die – inzwischen ritualisierte – Drohung mit dem Wegzug nach Dubai, Singapur oder Hongkong half auch in diesem Fall.

Meist freilich spuren die Politiker von allein. Das Schweizer Parlament schmetterte noch jeden links-grünen Vorstoss zur Regulierung des undurchsichtigen Geschäfts ab. Auch Wirtschaftsminister Schneider-Ammann handelt ganz im Sinn der Branche. Noch vor einem Jahr hatte er gepoltert, es müsse endlich «Ordnung im Stall» der Rohstoffriesen sein. Jetzt steht im lange erwarteten Rohstoffbericht, die Schweiz verzichte «vorläufig» auf gesetzliche Regelungen. Die Branche solle selbst für Ordnung sorgen.

Dass sie dies tut, bezweifelt die EU. Im Sommer 2013 wird ein EU-Gesetz in Kraft treten, das die stossendsten Korruptionsstellen trockenlegen soll. Auch die USA verlangen schon seit 2012 Auskunft über das Wer-Wann-Wo-Wie viel. Denn die Branche pflegt nicht nur im grossen Stil zu schmieren. Sie schiebt auch Gewinne so lange im Konzern-Labyrinth hin und her, bis sie sich für die Steuerbehörden verflüchtigt haben. Häufigste Variante: Eine ortsansässige Firma bezahlt den einheimischen Arbeitern Tiefstlöhne und verschachert die Ware zu Dumpingpreisen an die Mutterfirma in der Schweiz. Vorteil: Profite und Steuern im Förderland bleiben auf niedrigstem Niveau. Die Mutterfirma wiederum verkauft die Ware zu Weltmarktpreisen weiter und versteuert den Gewinn in Steueroasen. Resultat: Die Töchter werden immer dünner, die Mütter immer fetter.

Treibt man Familienforschung in der jungen Rohstoffhandelsbranche neuen Zuschnitts, führt alles zu Vater Marc Rich mit Firmensitz Zug. Sein Vermögen machte der Ölhändler unter anderem mit der Umgehung internationaler Embargos gegen Südafrika und Iran. Als ihn die USA 1993 wegen unzähliger Delikte, darunter organisierte Kriminalität, polizeilich suchte, drängte ihn sein Top-Management aus der Firma. Der neue Konzernname, Glencore, sollte die Vergangenheit vergessen lassen. Inzwischen haben sich etliche frühere Top-Angestellte des King of Oil selbst zu Prinzen mit eigenem Geschäft gemausert. Der erfolgreichste ist Trafigura-Gründer Claude Dauphin. Jährlicher Netto-Profit: eine Milliarde Dollar.

Den Traumstart der Prinzen ermöglichte der Immobilien- und Börsencrash. 2008 suchte die Finanzbranche dringend neue lohnende Anlagen. In Grundnahrungsmitteln, Minen und Energie wurde sie fündig. Inzwischen spekulieren nicht nur Pensionskassen- und Hedge-Funds. Es spekuliert auch der kleine Mann, der keine Ahnung von Termingeschäften, Futures und Short Selling hat. Hauptsache, die Preise steigen. Per Mausklick klinkt er sich in einen Maisfonds ein. Und am UBS-Schalter kauft er ein paar Reisaktien.

Die am Rohstoff-Gipfel in Lausanne akkreditierten Medienvertreter sind handverlesen. Mit «Bloomberg», «Wall Street Journal» und «NZZ» wähnt sich die Branche auf der sicheren Seite. Denn Rohstoffhändler scheuen die Öffentlichkeit. Briefe von Journalisten beantworten sie nicht. Interviews machen sie ungern, und wenn, dann nur in Anwesenheit ihres Medienspezialisten. So wie es Andrew Gowers ist. Andrew Gowers, klein und wendig, hat die geröteten Wangen eines fröhlichen Bonvivants. Er ist neu bei Trafigura und wird von den andern Kongressteilnehmern mit respektvoller Neugier betrachtet. Das also ist der Mann, der den Lehman Brothers während des Pleiteverfahrens zur Seite stand und mit viel Erfolg die Schadensbegrenzung betrieb. Und der nach der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko den gründlich ruinierten Ruf von BP wieder blank polierte. Jetzt kümmert sich der ehemalige «Financial Times»-Chefredaktor um den Rohstoffhandel. Die Gründe für dessen schlechtes Image liegen, so sagt er, nicht bei den Unternehmen. Sie liegen bei der Öffentlichkeit. In drei Worten: «Lack of understanding». Heute wird das Wort Handel mit Spekulation, Preisabsprachen, Monopolen, Kartellen und allerlei anderen üblen Machenschaften gleichgesetzt. Heute, bedauert er, macht die Öffentlichkeit kaum mehr einen Unterschied zwischen Handel und den schlimmsten Bankexzessen. Dabei war es von jeher der Handel, das Austauschen von Gütern, der den Fortschritt der Menschheit ermöglichte und den Lebensstandard erhöhte.

Im «Maison de Quartier» sind die Genossen mittlerweile zum Rotwein übergegangen. Alles wartet auf Jean Ziegler, Grandseigneur und Übervater der Branche. Als er endlich erscheint, sind seine Augen auf der Suche nach bekannten Gesichtern und einem Stuhl. Denn er ist schwer vergrippt, bleibt aber verbindlich wie immer: «Wie geit’s?» Als einer der Ersten schrieb er gegen das «Raubgesindel» in Genf an, dieser «Welthauptstadt der Tigerhaie», und forderte ein Verbot der preistreibenden Spekulation. Denn die Hungersnot 2013 hat nichts mit dem Mangel an Nahrung zu tun. Nahrung gibt’s genug. Ja, man könnte leicht doppelt so viele Menschen ernähren. Was fehlt, ist das Geld, um sie zu kaufen. Das unterscheidet den Hunger von heute vom Hunger von gestern.

«Endlich erwachen die Hilfswerke», stellt er zufrieden fest und überblickt die vielen Infostände mit Flugblätterstapeln und Broschüren, alle bis an den Rand in grosser Dringlichkeit bedruckt. Auf diesen jungen Leuten ruht seine ganze Hoffnung; von der SP erwartet er nichts mehr. «Sie liegt im Koma.» Tatsächlich freut sich die Schweizerische Bankiersvereinigung in ihrem Jahresbericht 2012 gleich an mehreren Stellen darüber, wie gut die Schweizer Sozialisten in die Politik eingebunden sind.
«Sobald Genosse Ziegler auf dem Podium ist, können wir beginnen!», ruft die Moderatorin in den Saal. Doch Genosse Ziegler hat Mühe, sich einen Weg durch seine Verehrer zu bahnen, von denen er viele umarmt. «Comrade Ziegler fait son entrée», ruft die Moderatorin, als sie schliesslich sein Haupt in der Menge erblickt.

«Applaus!»

Viele im Saal marschieren zwei Tage später an der Demonstration mit. Die Route, die ihnen die Lausanner Polizei zugewiesen hat, ist denkbar trostlos. Sie führt in weitem Bogen und über hohe Brücken durch ein Niemandsland und um die Stadt herum. Die Marschierenden ficht es nicht an. In einer Art fröhlichem Frühlingsspaziergang führen sie alles mit, was Räder hat, vom Kinderwagen über das Skatebord bis zum Rollstuhl. Als ein Bankhaus in Sicht kommt, werden die Buh-Rufe der Marschierenden lauter. Und weil’s so schön hallt, buht man auch in der Eisenbahn-Unterführung.

Vor dem «Beau-Rivage Palace» lehnen die Demonstranten ihre Demo-Schilder an die makellos getrimmten Buchsbaumhecken, damit die Slogans auch im fünften Stock zu lesen sind. «Die Welt ist keine Ware». «Ich schäme mich, Schweizerin zu sein». «Leben statt Börse». Kein Schatten rührt sich hinter den Fenstern; das Hotel scheint ausgestorben. Selbst die Polizisten stehen unbeweglich in Reih und Glied. Eine Rakete zischt. Die General-Guisan-Statue bekommt ein Spruchband umgehängt. Die Köchinnen des Kulturzentrums Bremgarten öffnen die mitgebrachten Körbe und packen Veganes aus. Unermüdlich skandiert der Protesttrupp: «Heute Nacht schlaft ihr nicht!» Sind es 500? «1200», korrigiert eine Frau, die weder links noch rechts ist, aber für den Frieden.

Die ersten Strassenlampen flammen auf, die Flaneure am Quai werden zu wandelnden Schattenrissen. In zügigem Tempo nähert sich ein Jogger den Demonstranten. Shorts und T-Shirt glänzen, die über den Kopf erhobenen Arme wedeln im Takt des Sprechchors hin und her. Links und rechts und links und rechts, wie beim Ententanz in der Skihütte. Bald sieht’s aus, als kommandiere er die Demo, als horchten alle auf seinen Befehl. Dann erlahmt sein spöttisches Dirigieren. Game over. Locker trabt er davon, passiert ungehindert den 80-köpfigen Polizei-Cordon und verschwindet im Hotel.

Am nächsten Morgen referiert der Jogger auf dem Kongress-Podium. Vor dem Hotel aber kampiert noch immer ein Häuflein Aufrechter. Vergnügt packen sie ihr Frühstück aus und bieten den Vorbeigehenden Kaffee aus der Thermosflasche an.