Die internationale Bankenkrise hat gezeigt, wie fragil die Finanzstabilität ist. Darum werden Forderungen laut, dass die Aufsichtsbehörden strenger durchgreifen sollten. Doch nicht alle Risiken lassen sich wegregulieren, erklärt der Chefstratege von Natixis IM gegenüber finews.ch.


Herr Chetouane, wie sehen Sie die finanzielle Stabilität in der EU nach der jüngsten Krise im Bankensektor?

Der europäische Bankensektor hat in den letzten fünfzehn Jahren mehrere Krisen durchlebt. Infolgedessen wurde die Regulierung erheblich verschärft. Das schränkte den Tätigkeitsbereich der europäischen Banken ein, stärkte aber gleichzeitig auch ihre Solvenz.

Woran lässt sich das erkennen?

Die Kernkapitalquoten der Banken in den grossen europäischen Ländern sind seit der Staatsschuldenkrise deutlich gestiegen und übertreffen die Werte in den Vereinigten Staaten. Daneben haben die Zentralbanken ihr Instrumentarium erweitert, um Liquiditäts- und Finanzstabilitätsprobleme anzugehen. Daher ist die Kombination aus einem starken Bankensektor und proaktiven Finanzbehörden eine gute Garantie für die Wahrung der Finanzstabilität im Euroraum.

Wie positionieren sich die Fed und die EZB in diesem Umfeld?

Die Zentralbanken haben ein schnelles, klares und starkes Signal an die Märkte gesendet, das jeden Ansteckungseffekt begrenzt hat, der durch den Konkurs der Silicon Valley Bank hätte ausgelöst werden können. Die Zentralbanken haben weitgehend aus früheren Erfahrungen gelernt und ihre Fähigkeiten zum Krisenmanagement verbessert, indem sie pragmatisch vorgegangen sind. Die Kosten einer Bankenkrise sind jetzt viel höher als die Kosten einer Eindämmung.

Müssen die regulatorischen Anforderungen gleichwohl verschärft werden?

Es wird zwar immer wieder darüber diskutiert, ob zusätzliche Massnahmen zur Stärkung des Systems erforderlich sind. Der derzeitige Regulierungsrahmen hat sich bisher jedoch als wirksam erwiesen.

Die Regulierungsbehörden müssen das richtige Mass finden

Es ist zu bedenken, dass die Auferlegung eines restriktiven Regulierungsrahmens den europäischen Bankensektor, der in einem globalisierten Umfeld konkurriert, benachteiligen könnte.

Was heisst das?

Die Regulierungsbehörden müssen das richtige Mass an Regulierung finden, um das Vertrauen in den Bankensektor und die finanzielle Stabilität in unsicheren Zeiten zu erhalten, ohne die Entwicklung des Sektors zu behindern. Alle weiteren regulatorischen Anforderungen müssten ein Gleichgewicht zwischen der Förderung der Finanzstabilität und der Gewährleistung herstellen, dass die Banken das Wirtschaftswachstum unterstützen.

Braucht es stärkere Schutzmassnahmen für den Nichtbankensektor, etwa für Hedgefonds oder alternative Anlagen?

Der EU-Bankensektor hat in den letzten Jahren erhebliche regulatorische Änderungen erfahren, um dem Systemrisiko entgegenzuwirken, das die Realwirtschaft treffen könnte. Die Regulierungsbehörden sollten jedoch bedenken, dass es einen Zielkonflikt zwischen der weiteren Stärkung der Sicherheitsvorkehrungen im Nichtbankensektor und dem Risiko eines Moral-Hazard gibt.

An welche Fehlanreize denken Sie?

Stärkere Sicherheitsvorkehrungen könnten die Akteure im Nichtbankensektor dazu verleiten, zusätzliche Risiken einzugehen, was wahrscheinlich zu unerwünschten Auswirkungen führen würde.

Der Ölmarkt dürfte in ein erhebliches Defizit fallen

Die effizienteste Art und Weise, diesen komplizierten Zielkonflikt anzugehen, wäre unserer Meinung nach, sich auf die Verstärkung der vorgelagerten Kontrollen und Vorschriften zu konzentrieren.

Wo sehen Sie derzeit die grössten Risiken für institutionelle Anleger?

Die fehlende Preisstabilität stellt eine Bedrohung dar. Sie könnte die Zentralbanken dazu veranlassen, die Zinssätze auf ein höheres Niveau anzuheben, als von den Anlegern erwartet wird. Dies wird den Zugang zu Krediten einschränken und das Kreditangebot für Unternehmen und letztlich auch für Haushalte verringern, was die Binnennachfrage dämpfen wird.

Unerwartet hohe Zinserhöhungen könnten auch für Unternehmen, die ihre Investitionen über die Anleihemärkte finanzieren, eine Herausforderung darstellen. Die Refinanzierung könnte sich daher wesentlich komplizierter gestalten.

Könnte der Wiederanstieg der Ölpreise in der ersten Aprilhälfte die Erwartungen vieler Marktteilnehmer über einen allmählichen Rückgang der Inflation in den kommenden Monaten in Frage stellen?

Die jüngste Erholung der Ölpreise war hauptsächlich auf die von der OPEC+ angekündigten überraschenden Produktionskürzungen von 1,16 Millionen Barrels pro Tag (mb/d) bis zum Jahresende zurückzuführen, die zu den zuvor von Russland angekündigten Produktionskürzungen von 0,5 mb/d hinzukamen. Kombiniert man unsere Erwartung eines weltweiten BIP-Wachstums von 1,9 Prozent im Jahr 2023 mit den OPEC+-Kürzungen, dürfte der Ölmarkt im Jahr 2023 in ein erhebliches Defizit fallen.

Bei den Nicht-Energierohstoffen ist ein Superzyklus wahrscheinlich

Darüber hinaus deuten die Ölterminkontrakte zwar darauf hin, dass die Preise in Zukunft sinken werden, doch werden sie voraussichtlich nicht das ganze Jahr über unter 70 USD pro Barrel fallen. Dies sollte eine positive Nachricht sein, damit der Inflationsdruck nachlässt. Um in den kommenden Monaten wieder positive Basiseffekte zu erzielen, müssten die Preise auf über 90 USD pro Barrel steigen und dauerhaft darüber bleiben.

Erwarten Sie einen neuen Superzyklus auf den Rohstoffmärkten?

Historisch gesehen wurden Superzyklen bei Rohstoffen meist durch Industrialisierungen oder Deindustrialisierungen ausgelöst, die zu einem deutlichen Anstieg der Nachfrage geführt haben. Es sollte zwischen Energierohstoffen und Nicht-Energierohstoffen unterschieden werden.

Bei Energierohstoffen ist die Superzyklus-Hypothese schwer zu vertreten, da sowohl kurz- als auch langfristig mit einem Rückgang der Nachfrage zu rechnen ist.

Und im Sektor der Nicht-Energierohstoffe?

Dort ist ein Superzyklus-Szenario wahrscheinlich, da die Nachfrage voraussichtlich stark ansteigen wird. Die Herausforderungen des Klimawandels, die in vielen Ländern zu erheblichen Veränderungen im Energiemix führen werden, dürften diesen Superzyklus unterstützen.

Wie sieht Ihr Ausblick für die Inflation aus?

Für Europa besteht kaum ein Zweifel, dass die Gesamtinflation aufgrund der starken negativen Basiseffekte bis zum Jahresende zurückgeht. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Kerninflation diesem Trend folgen wird. Im Gegenteil: Die Kerninflation dürfte in Europa weiter ansteigen.

Darüber hinaus muss sich der Dienstleistungssektor, der derzeit einer der Haupttreiber der Kerninflation ist, noch normalisieren. Die Hartnäckigkeit der Inflation stellt die Geldpolitik der Zentralbanken eindeutig vor eine Herausforderung. Wir können daher nicht ausschliessen, dass es zu überraschenden politischen Entscheidungen kommen wird.


Mabrouk Chetouane ist Leiter der Abteilung Global Market Strategy bei Natixis IM. Er verfügt über fast 20 Jahre Erfahrung im Bereich makroökonomischer Prognosen. Zu Natixis IM kam er von BFT Investment Managers, wo er Leiter für Research und Strategie war. Ausserdem war er 6 Jahre bei der Banque de France tätig. Er hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften der Universität Paris-Dauphine und einen Master-Abschluss der ENSAE in Wirtschaftswissenschaften und Statistikmodellierung sowie einen weiteren Master-Abschluss in quantitativer Makroökonomie der Universität Paris/Pantheon-Sorbonne.

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
  • Ja, es gab keine andere, wirtschaftlich sinnvolle Alternative.
    26.44%
  • Nein, man hätte die Credit Suisse abwickeln sollen.
    18.84%
  • Nein, der Bund hätte die Credit Suisse übernehmen sollen.
    28.14%
  • Man hätte auch ausländische Banken als Käufer zulassen sollen.
    9.02%
  • Man hätte eine Lösung mit Schweizer Investoren suchen sollen.
    17.56%
pixel