In diesem Jahr hat sich die wirtschaftliche Situation im Tessin – wie anderswo auch – wegen des Ukraine-Kriegs und der stark gestiegenen Inflation deutlich gewandelt. Die veränderte Geldpolitik der Notenbanken führte zu stark gestiegenen Hypothekarzinsen und damit zu einer gesunkenen Nachfrage nach Wohneigentum, wie eine Studie der Credit Suisse zeigt.

«Das Tessin hat schwierige Jahre hinter sich», sagte Marzio Grassi, Leiter der Region bei der Credit Suisse (CS), am Montag in Lugano anlässlich der Präsentation einer Studie zur wirtschaftlichen Situation in der Südschweiz.

Im vergangenen Jahrzehnt hätten verschiedene negative Faktoren wie die Aufhebung des Mindestkurses zum Euro, die faktische Aufgabe des Bankgeheimnisses oder die Zweitwohnungs-Initiative die Wirtschaft des Kantons belastet und zu einer Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit und zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt. Die Schwächephase sei auch auf demografischer Ebene zu spüren gewesen, mit mehreren Jahren rückläufiger Bevölkerung, erklärte Grassi weiter.

Brückenkopf zwischen der Deutschschweiz und Mailand

Die Corona-Pandemie erwies sich als zusätzliche Belastung, vor allem während der ersten Welle. Inzwischen konnte das Tessin dank verschiedener Massnahmen seine Standort-Attraktivität wieder erhöhen. So profitiert die Südschweiz nun von den deutlich verkürzten Zugsverbindungen zwischen der Deutschschweiz und Lugano – möglich wurde dies dank der Eröffnung des Ceneri-Basis-Tunnels im September 2020. Als Folge davon konnte sich das Tessin als Brückenkopf zwischen den Deutschschweizer Agglomerationen und der Metropolitanregion Mailand positionieren.

Die ausgesprochen vielfältige Tessiner Wirtschaft trug zusätzlich zu einer wirtschaftlichen Erholung bei. Durch die zunehmende Ausrichtung auf wertschöpfungsintensive Tätigkeiten entstanden sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor neue Spezialisierungen, welche die Grundlage für die zukünftige Entwicklung des Kantons noch verbessern könnten, wie die CS-Ökonomin Sara Carnazzi Weber erklärte.

Man denke zum Beispiel an die Pharmaindustrie und den Bereich Life Sciences, an Medizintechnik und Mikromechanik oder an Aktivitäten im Zusammenhang mit Information und Kommunikation sowie die Blockchain-Technologie, die mit dem «Plan B» der Stadt Lugano noch zusätzlich Auftrieb erhielt.

Stark gestiegene Hypothekarzinsen

In diesem Jahr hat sich die Situation im Tessin, wie anderswo auch, wegen des Ukraine-Kriegs und der stark gestiegenen Inflation deutlich gewandelt. Die veränderte Geldpolitik führte zu stark gestiegenen Hypothekarzinsen und damit zu einer gesunkenen Nachfrage nach Wohneigentum, wie es in der Studie weiter heisst.

Die hohe Inflation ist für Käufer von Wohneigentum und auch bei bestehenden Eigentümern beim Verlängern der Hypothek in Form von höheren Finanzierungskosten bereits zu spüren. So haben sich Fix-Hypotheken seit Anfang Jahr stark verteuert. Der Zinssatz der 5-jährigen Fix-Hypotheken ist von 1,23 Prozent Anfang 2022 auf zwischenzeitlich bis zu 2,89 Prozent angestiegen.

Jüngst hat sich die Situation zwar wieder etwas beruhigt, und der Zinssatz lag Anfang August bei 2,08 Prozent. Doch die Finanzierungskosten liegen noch immer 69 Prozent höher als zu Beginn des Jahres.

Neue Eigentumsprämie

Die steigenden Zinsen wirken sich unmittelbar auf die finanzielle Attraktivität von Wohneigentum aus. Nachdem die letzten 13 Jahren der jährliche finanzielle Aufwand für Wohneigentum tiefer ausgefallen ist als die Miete einer vergleichbaren Mietwohnung, muss seit Kurzem wieder eine Eigentumsprämie bezahlt werden. Im ersten Quartal 2022 belief sich die Prämie erst auf 3 Prozent. Sie dürfte aber im weiteren Jahresverlauf nochmals deutlich zulegen, wie die CS-Ökonomen schreiben.

Die höheren Zinskosten spiegeln sich in einer sinkenden Nachfrage nach Wohneigentum wider. Verstärkt wird der Nachfragerückgang durch ein zunehmendes Missverhältnis zwischen den Preiserwartungen verkäuferseitig und einer höheren Unsicherheit käuferseitig. In den Regionen Locarno und Mendrisio sind die Suchabonnemente für Eigentumswohnungen um 8 Prozent gesunken, in der Region Lugano um 4 Prozent.

Merklich höhere Nachfrage nach Ferienwohnungen

Analog der landesweiten Entwicklung ist die Neubautätigkeit von Wohneigentum im Tessin seit Jahren rückläufig. In den vergangenen zwölf Monaten sind im Tessin und in der benachbarten Bündner Region Mesolcina noch Bewilligungen für 796 Eigentumswohnungen sowie 426 Einfamilienhäuser gesprochen worden. Dies entspricht einem Rückgang um 49 Prozent gegenüber 2011.

Der Zweitwohnungsmarkt erlebte durch die Covid-19-Pandemie hingegen einen Schub. Nach Jahren stagnierender beziehungsweise rückläufiger Preise zeichnet sich derzeit ein fulminanter Preisanstieg ab. So beläuft sich das Preiswachstum schweizweit bei Eigentumswohnungen auf 11,3 Prozent und bei Einfamilienhäusern auf 16,2 Proizent. Getrieben wird die Dynamik von der merklich höheren Nachfrage nach Ferienwohnungen.

Rückläufige Rückwanderung nach Italien

Einerseits haben viele Schweizerinnen und Schweizer die Schönheit der hiesigen Feriendestinationen wiederentdeckt, anderseits dürfte sich das vermehrte Arbeiten im Homeoffice positiv auf die Nachfrage nach einer eigenen Ferienwohnung auswirken. Gleichzeitig ist das Angebot als Spätfolge der Annahme der Zweitwohnungsinitiative deutlich gesunken.

Ausserdem hat im Tessin  die zuvor jahrelang rückläufige Nettozuwanderung aus dem Ausland im Zuge der Pandemie und der darauffolgenden wirtschaftlichen Erholung wieder markant zugelegt. Insbesondere haben seither die Rückwanderungen nach Italien stark abgenommen.

In den eigenen vier Wänden

Während viele Haushalte aufgrund eingeschränkter Mobilität und erzwungenem Konsumverzicht gar ihre Sparquote erhöhen konnten, haben Massnahmen wie Kurzarbeit und Covid-19-Kredite viele Härtefälle verhindert. Ausserdem dürfte in einer Zeit, in der viele Personen weit mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbracht haben als je zuvor, die Wertschätzung – und damit auch die Zahlungsbereitschaft – für das Wohnen gestiegen sein, wie die CS-Autoren folgern.

Ähnlich wie in der Gesamtschweiz ist im Tessin der Leerstand bei kleineren Mietwohnungen weniger stark gesunken (-6,1 Prozent bei Wohnungen mit bis zu drei Zimmern) als bei den Wohnungen mit vier und mehr Zimmern (-11 Prozent). Die Pandemie hat die Trennung von Wohnen und Arbeiten aufgeweicht und dem Homeoffice zum Durchbruch verholfen.

Neue Kriterien in der Wohnungssuche

Auch in Zukunft dürften viele in Bürobranchen tätige Arbeitnehmer einen Teil ihres Arbeitspensums von zu Hause aus leisten. Dadurch hat die Nähe zum Arbeitsplatz als Kriterium bei der Wohnungssuche etwas an Bedeutung verloren. Gleichzeitig steigt durch die Einrichtung eines Heimbüros der Raumanspruch an die Wohnung. Bei der Wohnungsnachfrage kann folglich eine Verlagerung in Richtung grösserer und weniger zentral gelegener Wohnungen festgestellt werden, heisst es in der CS-Studie.

 

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