Psychische Probleme sind in der Schweiz immer noch so stark stigmatisiert, dass Betroffene aus Angst vor Konsequenzen schweigen. Dabei würden auch alle anderen von mehr Offenheit profitieren, sagt Roger Staub, der Geschäftsleiter von Pro Mente Sana, im Gespräch mit finews.life.

Roger Staub, gibt es aus ihrer Sicht als Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana ein typisches Schweizer Leiden?

Ja. Ich denke das typische Schweizer Leiden ist, dass immer noch die meisten glauben, dass man für psychische Schwierigkeiten selbst die Schuld trägt und sich einfach ein bisschen mehr anstrengen müsste. Das hat mit Stigma und fehlendem Wissen zu tun, was das schlimmste am Thema ist und das meiste Leiden verursacht.

Was sind denn die Folgen dieser Stigmatisierung in der Schweiz?

Viele Schimpfwörter bezeichnen Leute, die psychisch nicht fit sind – Spinner, zum Beispiel. Wenn ein Mensch anfängt zu merken, dass es ihm nicht gut geht, ist die erste Reaktion, «Ui, ich gehöre zu denen». Bis jemand sagt, «ich brauche Hilfe», ist es ein langer Weg der Leiden verursacht, weil die Leute die Scham und das Stigma überwinden müssen.

«Wegen einer leichten Depression muss man nicht aufhören, zu arbeiten»

Betroffene leiden und schweigen bis es nicht mehr geht. Das führt dazu, dass Probleme sich verschärfen, Krankheiten schlimmer, schlechter therapierbar und damit teuer zu behandeln werden.

Wo fallen diese Kosten an?

Es ist eine Kombination aus individuellem Leiden und hohen Krankheitskosten was zu Folgen für die Wirtschaft führt – und dazu gehören wir ja alle. Eine schwere Depression zu behandeln, ist schwierig und aufwändig. Ob die Wiederintegration funktioniert, ist auch nicht sicher. Eine leichte Depression kann man ambulant mit einem guten Therapeuten in den Griff bekommen. Dafür muss man nicht aufhören, zu arbeiten.

Mir scheint es aber schon, dass das Stigma nicht mehr so schwer wiegt wie noch vor 20 Jahren. Was muss sich an der Einstellung der Leute noch ändern?

Sicher hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Aber wir sind immer noch weit weg von einer Gesellschaft, wo jemand mit einer Depression im Büro sagen kann, «heute geht es mir wieder gar nicht gut», ebenso wie man sagen könnte, «ich bin beim Joggen umgeknickt und habe ein Band gerissen».

 «Es kommt nicht gut, wenn man zugibt, dass es einem nicht gut geht»

Natürlich ist es in vielen Gesellschaften ähnlich wie in der Schweiz, aber zumindest englischsprachige Länder sind uns im Bewusstsein über diese Probleme etwa zehn Jahre voraus.

Sie erwähnen den Arbeitsplatz. Was können Unternehmen tun, um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter besser zu schützen?

Zuerst müssen wir alle den Analphabetismus zum Thema psychische Gesundheit überwinden. Wegen des Tabus haben wir keine Sprache, gibt es keine anständigen Wörter, mit denen man sich gezielt unterhalten kann. Wir alle kennen Geschichten darüber, wie es nicht gut kommt, wenn man zugibt, dass es einem nicht gut geht. Die Korrektur muss von ganz oben in der Firma kommen und die Rücksichtnahme auf die psychische Gesundheit sollte ebenso selbstverständlich sein wie ergonomische Arbeitsplätze. Und dann braucht es Linienvorgesetzte, die auch das Vokabular beherrschen und darauf sensibilisiert sind, wie es den ihnen anvertrauten Menschen geht und die ein vernünftiges Gespräch führen können.

Gibt es einfache Wege, ein Leiden früh zu erkennen? Oder dass man Druck wegnehmen müsste, um ein solches zu vermeiden?

Die meisten haben keine Mühe, zu erkennen, ob es jemandem gut geht. In einer Studie haben uns 90 Prozent der Befragten gesagt, dass sie Betroffene kennen.

 «Die Betroffenen möchten mit jemandem sprechen»

Das ist ein gutes Zeichen, denn vor zehn Jahren wäre das noch anders gewesen. Und die Leute wollen auch helfen, wissen aber nicht wie.

Wie kann man denn helfen?

Die Betroffenen möchten mit jemandem sprechen, sie brauchen Anteilnahme. Und es geht meistens nicht um professionelle Hilfe, sondern um jemanden dem man sich anvertrauen kann. Der zuhört, nicht wertet und keine Sprüche absondert wie «streng dich halt an».

Warum ist das so schwierig, wenn doch die meisten Leute sagen, sie würden gern unterstützen?

Weil die Betroffenen Angst haben, dass es negative Reaktionen geben könnte. Genau deshalb fördern wir die Idee einer Ausbildung zur ersten Hilfe für psychische Gesundheit, vergleichbar mit einem Erste-Hilfe-Kurs den man für die Führerschein-Prüfung machen muss.

 «ehr viel weniger Widerstand oder Ausflüchte»

In diesem Kurs namens Ensa lernen Laien, wie man auf jemandem zugehen kann, von dem man das Gefühl hat, es geht ihm nicht gut.

Was ist denn die Schlüsselfrage, die man in einem solchen Fall stellen sollte?

Das ist simpel: «Wie geht es dir?» Und weil das ja eine Floskel ist, sagen wir, wenn es Dich wirklich interessiert, frage an einem Ort und zu einer Zeit, wo auch vertraulich weitergesprochen werden kann. Und frag zweimal. Das erste Mal ist es eine Floskel. Aber wenn Ort und Zeit stimmen und ich als Hilfeanbieter Zeit habe, es genauer wissen zu wollen, dann frage ich noch einmal. «Wie wirklich? Es interessiert mich.» Dann gibt es sehr viel weniger Widerstand oder Ausflüchte. Aber wir bringen Ersthelfern auch bei, dass sie nicht beleidigt sein müssen, wenn es der anderen Person nicht passt und diese deshalb nein sagt.


Das GABI für psychische Probleme:

Zum Inhalt des Kurses für die erste Hilfe in psychischer Gesundheit gehört auch ROGER. Anhand dieses Akronyms lernt man auf eine Person, die Unterstützung braucht, besser einzugehen. Die Buchstaben stehen für 1. Reagieren, 2. Offen und unvoreingenommen zuhören, 3. Ganzheitlich unterstützen und informieren (zum Beispiel, indem Fehlvorstellungen von einer Therapie ausgeräumt werden, durch Hinweise auf die Möglichkeiten des Hausarztes) 4. Ermutige zu professioneller Hilfe, 5. Ressourcen im Umfeld der Person aktivieren.


Was können Chefs tun? Wobei ich nun nicht CEOs meine, sondern zum Beispiel Teamleiter.

Am Arbeitsplatz treten am häufigsten Erschöpfungsdepressionen wegen Überlastung und Stress oder wegen einem schlechten Arbeitsklima auf. Darüber zu reden geht leichter, weil es sich nicht um eine schwere psychische Störung wie beispielsweise Schizophrenie handelt. Studien aus dem angelsächsischen Raum zeigen, dass Firmen, die Kader in diesem Bereich geschult haben, besser handeln. Wobei eine Hotline allein nichts nützt, denn die Betroffenen wollen professionelle Hilfe oft nicht annehmen.

«Mein Wissen zur ersten Hilfe für psychische Gesundheit ist mir mindestens einmal pro Woche nützlich»

Wenn die Kollegen oder Linienvorgesetzten – Laien – gelernt haben, wie sie erste Hilfe leisten können, reduziert das die Burnout-Quoten signifikant. Deshalb lohnt sich unser Ensa-Kurs: Ein Burnout im mittleren Kader kostet in der Regel mehrere Jahressaläre, während unser Kurs 500 Franken kostet und im Idealfall mindestens jeder fünfte Mitarbeiter diesen machen sollte. Mal ganz davon abgesehen, dass ein Mensch davor bewahrt werden kann längerfristig psychisch zu erkranken.

Und diese Rechnung geht auf?

Mit jedem investierten Franken kommt eine Ersparnis von mindestens 10 Franken. Die Nützlichkeit kann ich mit einer Anekdote aus meiner persönlichen Erfahrung belegen: Ich bin seit dem 16. Lebensjahr zum Rettungsschwimmer ausgebildet und habe mehrere Nothelfer-Kurse belegt. Dieses Wissen habe ich erst ein einziges Mal gebraucht. Mein Wissen zur ersten Hilfe für psychische Gesundheit ist mir mindestens einmal pro Woche nützlich.

Wer soll diesen Erste-Hilfe-Kurs machen?

Eigentlich alle. Eine Welt, wo alle das Basiswissen dazu haben, wäre eine bessere Welt.


Roger Staub ist Geschäftsleiter von Pro Mente Sana, einer Stiftung, die sich für psychisch beeinträchtige Menschen in der Schweiz einsetzt. Der Zürcher ist Mitgründer der Aids-Hilfe Schweiz und war lange in der HIV-Prävention tätig. Vor seinem Wechsel zur Stiftung arbeitete er beim Bundesamt für Gesundheit als Leiter der Sektion Aids und stellvertretender Abteilungsleiter Übertragbare Krankheiten. Der ausgebildete Sekundarlehrer ist begeisterter Segler.