Maryann Selfe: «Im blinden Fleck eine Investmentchance sehen»

Frauen stellen die Hälfte der Weltbevölkerung, treffen rund 80 Prozent aller Gesundheitsentscheidungen und verfügen über eine geschätzte Konsumkraft von 30 Billionen Dollar.

Dennoch orientieren sich medizinische Forschung, Produktentwicklung und Gesundheitsversorgung weiterhin an der männlichen Biologie und an Datensätzen, die überwiegend Männer abbilden.

Diese Schieflage hat weitreichende Konsequenzen. Krankheiten mit hoher Prävalenz bei Frauen – etwa Autoimmun- und Hormonstörungen, Endometriose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – werden bis heute zu wenig erforscht, diagnostiziert und finanziert.

Unterbewerteter Markt

Nebenwirkungen von Medikamenten bei Frauen werden oft erst nach der Zulassung erkannt. Ganze Märkte – von der Menopause-Behandlung über Fruchtbarkeits-Innovation bis zur Müttergesundheit – bleiben im Verhältnis zu Bedarf und Nachfrage deutlich unterversorgt.

Laut «Grand View Research» soll der globale Markt für Frauengesundheit von 49 Milliarden Dollar im Jahr 2024 auf 68 Milliarden Dollar bis 2030 wachsen. Verschiedene Prognosen gehen sogar davon aus, dass Frauengesundheit in den kommenden Jahren zu einem mehrhundert-Milliarden- bis Billionen-Markt heranwachsen könnte.

Starkes wirtschaftliches Potenzial

Traditionell galt Frauengesundheit bisher als Nischensegment innerhalb des Gesundheitssektors. Diese Wahrnehmung verändert sich: Demografische Trends schaffen einen mächtigen ökonomischen Hebel – bis 2030 könnten Frauen über 40 zu einer der wohlhabendsten Bevölkerungsgruppen der modernen Geschichte werden. Das Zusammenspiel von Langlebigkeitsforschung, Hormonwissenschaft und digitalen Therapeutika eröffnet eine Pipeline skalierbarer Innovationen mit erheblichem kommerziellem Potenzial.

Die makroökonomische Logik ist einfach: Gesündere Frauen bedeuten höhere Arbeitsmarkt-Partizipation, geringere Gesundheitskosten und mehr Stabilität in den Haushalten. Die Schliessung der «Women’s Health Gap» stärkt die Produktivität und unterstützt die fiskalische Nachhaltigkeit – Ergebnisse, die sowohl privaten als auch öffentlichen Kapitalinteressen entsprechen.

Europas Chance

Während die USA derzeit bei Femtech-Investitionen führen, verfügt Europa über strategische Vorteile in Wissenschaft, klinischer Forschung und Regulierung. Besonders die Schweiz bietet erstklassige Gesundheits-Infrastruktur, pharmazeutische Kompetenz und ein wachsendes Innovations-Ökosystem.

Doch die Kapitalflüsse bleiben fragmentiert. Viele aussichtsreiche Start-ups kämpfen um Seed-Finanzierungen oder verlieren sich im regulatorischen und erstattungsseitigen Dickicht. Das Resultat: Europäische Forschung wandert häufig ins Ausland ab – dorthin, wo Märkte das kommerzielle Potenzial schneller erkennen.

Diese Schieflage zu korrigieren, ist nicht nur eine Frage der Gleichstellung, sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit. Europas Fähigkeit, medizinische Innovation in Wirtschaftswachstum zu übersetzen, hängt davon ab, ob es bereit ist, das gesamte Spektrum der Gesundheitstechnologie zu fördern – einschliesslich der 50 Prozent der Biologie, die in der Forschung bisher unterrepräsentiert sind.

Systemischer blinder Fleck

Die Lücke in der Frauengesundheit betrifft nicht nur medizinische Inklusion, sondern auch die finanzielle Architektur. Historisch floss Kapital in Krankheitsbilder mit klaren Erstattungswegen und messbaren Behandlungsergebnissen.

Gesundheitsbereiche, die hormonelle Veränderungen, Reproduktionsmedizin oder chronisches Krankheitsmanagement umfassen, wurden oft als «Lifestyle» statt als klinisch relevant eingestuft – mit entsprechend geringem institutionellem Interesse.

Investoren beginnen hinzusehen

Diese Sichtweise ist überholt. Fortschritte bei Biomarkern, Datenanalyse und KI machen frauenspezifische Erkrankungen mess- und behandelbar – und eröffnen damit skalierbare Ansätze in Diagnostik und Therapie. Parallel dazu hat sich das Konsumentenverhalten verändert: Seit der Pandemie suchen Frauen verstärkt nach proaktiven, datengetriebenen Gesundheitslösungen.

Investoren beginnen, das Potenzial zu erkennen. Weltweit überschritt die Femtech-Finanzierung im vergangenen Jahr die Marke von einer Milliarde Dollar. Immer mehr Kapital fliesst in Diagnostik, Menopause-Behandlung und digitale Frauengesundheits-Lösungen.

Dennoch beansprucht Femtech erst rund 1 bis 3 Prozent des gesamten Healthtech-Kapitals – ein deutliches Zeichen, dass sich die Branche noch in einer frühen Phase befindet und grosses ungenutztes Wachstumspotenzial birgt.

Kapital mit Wirkung

Das Investment-Argument ist sowohl rational als auch moralisch überzeugend. Makroökonomisch führt Unterinvestition in Frauengesundheit zu Ineffizienz: geringerer Erwerbsbeteiligung, höherer Krankheitslast und steigenden öffentlichen Gesundheitskosten.

Aus Portfolioperspektive eröffnet sich ein bislang unerschlossener Wachstumsmarkt, der mit langfristigen Megatrends – Langlebigkeit, Präzisionsmedizin, demografischer Wandel – im Einklang steht.

Investoren sind es gewohnt, fehlbewertete Märkte zu identifizieren. Der Sektor Frauengesundheit ist einer, der im grellen Licht der Gegenwart – und doch – verborgen liegt.

Was als Nächstes kommt

Nach ihrem offiziellen Start am 15. Oktober veranstaltet die FemmeHealth Alliance am 23. Oktober ihr erstes Webinar mit dem Titel «The Business of Women’s Health». Dabei diskutieren Investorinnen, Gründerinnen und Branchenexpertinnen, wie die Schliessung der Geschlechterlücke in der Gesundheitsinnovation sowohl gesellschaftlichen als auch ökonomischen Mehrwert freisetzen kann.


Maryann Selfe ist Gründerin und Präsidentin der FemmeHealth Alliance, einer in der Schweiz ansässigen Non-Profit-Plattform, die Kapital für Innovationen im Bereich Frauengesundheit mobilisiert.