Die Annahme, dass chinesische Unternehmen nur ein rudimentäres Verständnis von ESG haben, ist weit verbreitet. Das stimme so nicht, erklärt Karsten Dirk Steffens, Länderchef Schweiz von Aberdeen Standard Investments, im Interview mit finews.ch.


Herr Steffens, China scheint die Coronakrise zumindest wirtschaftlich gut überstanden zu haben. Ist jetzt ein guter Zeitpunkt, in chinesische Aktien zu investieren?

Auf jeden Fall. Neben guten strukturellen Wachstumsaussichten sind die Bewertungen der A-Aktien nach der jüngsten Marktkorrektur ebenfalls attraktiv. Auch die Gewinnberichte der Unternehmen sind vielversprechend.

China war zwar als erstes Land von der Pandemie betroffen, konnte sich dafür aber im Gegensatz zu anderen Ländern auch schneller wieder erholen, wie das Wachstum von 2,3 Prozent im vergangenen Jahr zeigt. China ist wirtschaftlich unabhängiger geworden und wird von inländischen Faktoren angetrieben – insbesondere von den chinesischen Konsumenten.

Können Sie das noch etwas genauer ausführen?

So haben sich der Inlandstourismus und Binnenkonsum gut erholt. Wir erwarten, dass die Urbanisierung und die wachsende Mittelschicht die Nachfrage nach hochwertigen Gütern und Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Vermögensverwaltung, Versicherungen und Luxusartikeln ankurbeln werden. Veränderte Arbeits- und Konsummuster aufgrund von Covid-19 deuten auf Wachstum in den Bereichen Cloud Computing, 5G, Gaming und Lieferdienste hin.

«Unserer Ansicht nach wäre ein direktes Engagement in China vorteilhafter»

Darüber hinaus war erneuerbare Energie noch nie so günstig wie heute, und China dominiert die globalen Lieferketten für erneuerbare Energien und Batterien. Diese bieten langfristige Investitionsmöglichkeiten. Anleger in der Schweiz sind allerdings oft nur indirekt in chinesischen Aktien investiert, zum Beispiel über eine globale Schwellenländer-Benchmark. Unserer Ansicht nach wäre ein direktes Engagement in China vorteilhafter, um an dem enormen Wachstumspotenzial des Landes teilzuhaben.

Wie können Privatinvestoren denn am besten in den chinesischen Markt investieren?

Die Einführung der Hongkong und Shanghai/Shenzhen Stock Connect-Programme vor wenigen Jahren haben Chinas A-Aktienmärkte nicht nur für Investoren aus der ganzen Welt geöffnet, sondern brachte China-A-Shares auch in die globalen Benchmarks wie den MSCI. So können Anleger in die 1‘500 grössten Unternehmen investieren, die in Shenzhen und Shanghai gelistet sind, was dem Grossteil der Onshore-Aktienmarktkapitalisierung Chinas entspricht.

«Der Markt für chinesische A-Aktien ist riesig – er ist der zweitgrösste weltweit»

Der Schlüssel zur Erschliessung des Potenzials liegt in der Identifizierung von Unternehmen, die das wachsende verfügbare Einkommen anzapfen können. So können Privatinvestoren zum Beispiel in einen liquiden Fonds investieren, hinter dem ein starkes lokales Team mit einer ausgewiesenen Erfolgsbilanz stehen sollte.

Der Markt für chinesische A-Aktien ist riesig – er ist der zweitgrösste weltweit. Zudem weist er eine ausgezeichnete Liquidität auf, ist immer noch ineffizient und bei den Anlegern unterrepräsentiert.

Was sind für europäische Anleger die grössten Risiken am chinesischen Aktienmarkt?

Schlecht wäre eine Wachstumsdelle. Die Regierung hat jedoch mehr Fiskalunterstützung zugesagt, als erwartet. Ausserdem sollen die Leitzinsen nicht zu schnell zu gestrafft werden. Das Hauptrisiko für Anleger besteht eher darin, eine Aktie von schlechter Qualität zu kaufen oder für eine gute Aktie zu viel zu bezahlen.

«China’s A-Aktienmärkte werden von Kleinanlegern dominiert, und sind daher oft von Sentiment getrieben»

Gerade bei chinesischen Unternehmen spielt Qualität eine entscheidende Rolle. China’s A-Aktienmärkte werden von Kleinanlegern dominiert, und sind daher oft von «Sentiment» getrieben. Dies ermöglicht es Anlegern, Qualitätsaktien zu günstigen Preisen zu kaufen.

Chinesische A-Aktien bieten spannende Diversifizierungs- und Anlagemöglichkeiten für Schweizer Anleger, sie sind aber auch teilweise mit versteckten Risiken behaftet. Ein aktiver Ansatz macht daher viel Sinn.

In der Vergangenheit liess die Corporate Governance in chinesischen Unternehmen zu wünschen übrig. Hat sich daran etwas geändert?

China verändert sich schneller als uns bewusst ist. Wir investieren bereits seit 1992 in chinesische Aktien. Lange Zeit haben wir nur in Unternehmen mit Sitz in Hongkong investiert, da sie einer strengen aufsichtsrechtlichen Kontrolle unterlagen und hohe Governance-Standards aufwiesen. A-Aktien-Unternehmen mussten damals ihre finanzielle Transparenz erst verbessern und den Anlegerschutz stärken.

«Die Pandemie hat die Veränderungen in den Arbeits- und Konsummustern beschleunigt»

Aber je besser wir die Firmen über Zeit kennenlernten, desto mehr sahen wir auch ihre Stärken. Einige der grössten Staatsunternehmen haben solide Managementteams und sind international tätig.

Inzwischen sehen wir vermehrt Verbesserungen in der Unternehmensführung. Dies reicht von wachsender Transparenz und besserer Zusammensetzung des Managements bis hin zu einem diversifizierten Aktienbesitz. Zudem arbeitet Chinas Wertpapier-Aufsichtsbehörde zurzeit strengere Richtlinien aus.

Welche Branchen sind in China mit Blick auf die nächsten fünf Jahre am attraktivsten?

Es gibt strukturelle Wachstumsthemen, für die sich Anleger positionieren können. Die Pandemie hat die Veränderungen in den Arbeits- und Konsummustern beschleunigt, so dass Anleger gezielt Unternehmen anvisieren können, die davon profitieren werden. Dazu gehören Firmen die sich auf Cloud Computing, Premium-Lebensmittel und Getränke, Cybersicherheit und Online-Lebensmittellieferungen konzentrieren.

«Ein weiterer Bereich sind Lebensversicherungen, die noch nicht weit verbreitet sind»

Darüber hinaus erwarten wir, dass das steigende verfügbare Einkommen der schnell wachsenden chinesischen Mittelschicht unter anderem die Nachfrage nach Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen ankurbeln wird. Ein weiterer Bereich sind Lebensversicherungen, die noch nicht weit verbreitet sind.

Schliesslich setzen sich die politischen Entscheidungsträger weltweit für eine grünere und kohlenstoffärmere Welt ein. Wir sehen daher gute Möglichkeiten, in die Lieferkette für erneuerbare Energien zu investieren, die Branchen wie Windkraft, Solarenergie und Elektrofahrzeuge unterstützt.

«Chinas Banken können Wert bieten»

Viele Firmen in dieser Wertschöpfungskette sind in China ansässig. Wir konzentrieren uns dabei weiterhin auf vier Hauptthemen: Grünes China, Gesundheit & Wellness, verändertes Konsumverhalten und Lebensversicherungen, die auch aus Sicht eines Schweizer Anlegers interessant sind.

Wie präsentiert sich für einen potenziellen Anleger der Bankensektor?

Chinas Banken können Wert bieten. Wir bevorzugen Institute in Privatbesitz, die auf das Privatkundengeschäft ausgerichtet sind und über nachhaltige Wachstumsaussichten, solide Bilanzen und gute Managementteams verfügen.

Welches Kurspotenzial trauen Sie dem chinesischen Aktienmarkt zu?

Wir gehen davon aus, dass die chinesische Wirtschaft 2021 ein Wachstum im hohen einstelligen Bereich erreichen wird. Die Konsensprognosen für das Gewinnwachstum bei den Unternehmen im MSCI China A Onshore Index liegen im zweistelligen Bereich.

«Das stimmt so nicht»

Im Vergleich zum S&P500 ist der chinesische Index auf Basis des Kurs-Gewinn-Verhältnisses 30 Prozent günstiger. Anleger können also immer noch einen relativen Wert in A-Aktien finden. Nach dem chinesischen Neujahrsfest Anfang Februar hatte sich die Stimmung aufgrund der Sorgen über eine Verknappung der Liquidität zunächst verschlechtert.

Angesichts der steilen Kursgewinne des vergangenen Jahres sehen wir die Korrektur jedoch als gesund an. Es ist allerdings wichtig, die Stärken und Schwächen der Unternehmen genau unter die Lupe zu nehmen und in Qualitätsaktien zu investieren, die in der Lage sind, ein nachhaltiges Gewinnwachstum zu erzielen.

Letzte Fage noch: Im Westen setzen immer mehr Anleger auf nachhaltiges Investieren – zum Beispiel nach ESG-Kriterien. Ist nachhaltiges Investieren in China überhaupt möglich?

Die Annahme, dass chinesische Unternehmen lediglich ein rudimentäres Verständnis von ESG haben, ist weit verbreitet. Das stimmt so nicht.

«Immer mehr chinesische Unternehmen sind sich ihres ökologischen Fussabdrucks bewusst»

Natürlich gibt es Unternehmen unterschiedlicher Qualität, wie in anderen Märkten auch. Wichtig ist jedoch, dass man in China ein wachsendes Verständnis für den Wert erkennt, den die Beachtung von ESG-Faktoren bringen kann.

Immer mehr chinesische Unternehmen sind sich ihres ökologischen Fussabdrucks bewusst. Sie erkennen, dass die Umsetzung nachhaltiger Kriterien die Markenwahrnehmung, die Kundentreue und letztlich den Aktienkurs verbessern kann. Viele chinesische Unternehmen geben inzwischen ihr Nachhaltigkeitsdenken und die Rahmenbedingungen, die sie zur Vermeidung von ESG-Risiken geschaffen haben, bekannt.

Dazu gehört ebenfalls die Art und Weise, wie sie mit Mitarbeitern und Lieferanten umgehen. Chinas Versprechen, bis 2060 kohlenstoffneutral zu werden, geht ebenfalls in die richtige Richtung. Zudem dürfte die soeben auf EU-Ebene eingeführte Verordnung (Sustainable Finance Disclosure Regulation, SFDR), die bestimmte nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten je nach Fondskategorie vorsieht, auch in China für Diskussionen sorgen.

Denn mit der neuen Verordnung können Fonds neu in standardisierter Form in Bezug auf Nachhaltigkeit verglichen werden. Dies dürfte beizeiten auch für die Schweiz ein Thema sein.


Karsten-Dirk Steffens ist seit Oktober 2019 neuer Head of Switzerland Distribution und Länderchef Schweiz von Aberdeen Standard Investments. Steffens ist seit fast 20 Jahren im Asset Management tätig. Stationen in seiner Karriere waren Threadneedle in Deutschland und England, danach war er beim Markteintritt von Axa Investment Managers in der Schweiz 2006/2007 Teil des Pionierteams und arbeitete insgesamt fünf Jahre für Axa IM, bevor er zu Aviva Investors wechselte, wo er fast achteinhalb Jahre tätig war.

 

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