Die Menschen denken nicht gern über sich selbst nach, sagt der Autor Alain de Botton. Weshalb sich Introspektion trotzdem lohnt und welche Nachteile sie mit sich bringen kann, sagt er zu finews.life.

Den meisten Menschen ist es wohler dabei, ihre tiefsten Bedürfnisse und Beweggründe nicht zu genau zu kennen. Kein Wunder: Selbsterkenntnis ist oft ein schmerzhafter Prozess.

«Obwohl wir grosse Hirne haben, um über Dinge nachzudenken, denken wir nicht gern über uns selbst nach», sagt der Schriftsteller Alain de Botton. «Wir lenken uns lieber ab, und das kommt uns teuer zu stehen.»

Keine Kompromisse

Ein Resultat dieser menschlichen Tendenz ist eine Gesellschaft, die stark auf Wettbewerb ausgerichtet ist. Das fängt mit der Suche nach romantischer Erfüllung an, wie de Botton im Gespräch mit finews.life erklärt. Entweder werden die entsprechenden Sehnsüchte erfüllt, oder nicht – dazwischen gibt es nichts.

«Wir haben ein System aufgebaut, in welchem es das Ziel ist, zu gewinnen», sagt er. «Das kann kein Rezept für Glück sein, weil es dabei viele Verlierer gibt.»

Fokus auf Geld und Status

Dieselbe Denke hat in seiner Interpretation auch viele Unternehmen erfasst. Anstatt auf die Nuancen der Menschen einzugehen, werden alle über einen Kamm geschoren. Namentlich der Fokus auf Geld und Status belastet die Psyche vieler Mitarbeiter.

«Es gibt Organisationen wo die Vorstellung herrscht, dass niemand Fehler macht. Wer sich einen Fehler leistet, ist draussen», wie er beispielhaft erklärt. «Das ist keine gute Idee.»

Dilemma für Kapitalisten

Während eine gesunde Fehlerkultur nachweislich ein Vorteil für Unternehmen ist, hält de Bottons Forderung nach mehr Introspektion ein Dilemma bereit: Tiefe Selbstkenntnis kann in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft auch Nachteile mit sich bringen.

«Wir glauben gern, wir könnten alles haben», sagt der Autor von mehr als einem Dutzend Büchern über Themen von Philosophie und Liebe, bis hin zu Architektur und Reisen. «Vielleicht sind aber gewisse Arten von Beschwerden und Unglück eigentlich sehr hilfreich auf dem Weg an die Spitze.»

Geld gegen Liebe

Immerhin diene Ehrgeiz oft dazu, ein Bedürfnis auszugleichen, häufig nach Zuneigung. Der einfachste Tausch sei derjenige von Geld gegen Liebe, wobei Geld das wichtigste Zeichen für Erfolg ist, sagt der Gründer der School of Life, mit welcher er den Menschen unter anderem dabei helfen will, sich selbst besser kennen zu lernen

Der Schluss liegt deshalb nahe, dass völlig ausgeglichene Menschen nicht mit dem gleichen Biss berufliche Bestätigung suchen, wie solche mit einer gewissen inneren Leere. Auch die permanente Suche nach Ablenkung, welche uns zum Beispiel Smartphones erlauben, ist wohl kein Zeichen von Zufriedenheit.

Zerbrechliche Zivilisation

«Viele Leute haben viel mehr Introspektion nötig. Es ist einfach, genauso übermässig aufgeregt zu werden, wie Kinder, die ein Nickerchen nötig haben», diagnostiziert der studierte Philosoph. «Wir leben in einem Zeitalter der Ablenkung, in welchem wir einen eisernen Willen brauchen.»

Es wäre allerdings eine Illusion, an eine Vergangenheit voller ausgeglichener, zufriedener Menschen zu glauben, sei es im Privatleben oder im Beruf. Dass wir oft lieber zum Smartphone als zu einem Buch greifen, ist höchstens ein neues Symptom einer längst bestehenden Situation.

«Die Zivilisation insgesamt war schon immer ein zerbrechliches Gebilde», sagt de Botton. «Es gab nie eine Zeit, in der die ganze Menschheit psychologisch hochentwickelt war.»

Mehr Verständnis für uns selbst

Auch hier wäre das Streben nach Perfektion also vergebene Mühe. So sei es eine Illusion zu denken, nach einem langen Arbeitstag sei der Geist noch zur Lektüre höchst anspruchsvoller Bücher bereit, sei es vom stoischen Philosophen Marcus Aurelius oder von Blaise Pascal.

«Wir sollten unserem eigenen Geist etwas mehr Verständnis entgegenbringen», rät der in Zürich geborene de Botton. «Das Hirn braucht Pausen, es braucht Spaziergänge in der Natur, und es braucht Ablenkung.»