Noch nie wurden Risiken so schlecht belohnt wie heute. Das wird zerstörerische Folgen haben. Bill Gross über den teuren Preis von Renditen im Nullbereich.


Bill-Gross-200Bill Gross gründete 1971 die Anlagegesellschaft Pimco. Heute ist er Managing Director des Unternehmens, das zum Allianz-Konzern gehört, und verwaltet den grössten Fonds im Haus, den Pimco Total Return Fund.


Joseph Schumpeter, der den Ausdruck der «schöpferischen Zerstörung» prägte, brachte in den 1930er-Jahren eine weitere, weniger bekannte Aussage hervor. «Gewinne», schrieb er, «sind von Natur aus temporär: Sie lösen sich im anschliessenden Prozess aus Wettbewerb und Anpassung in Luft auf.»

Und so geschah es auch, zumindest auf der Mikro-Ebene, auf die Schumpeters Bemerkung offenkundig abzielte. Einst stolze, scheinbar unzerstörbare Giganten des Kapitalismus mussten einsehen, dass ihre Gewinne vergänglich waren. Kodak, Sears, Barnes & Noble, AOL und zahllose andere wurden durch den technischen Fortschritt, ein gezielteres Management oder neue Geschäftsmodelle, die sich besser auf ein neues Zeitalter «übertragen» liessen, nahezu in Vergessenheit konkurriert.

Der Kapitalismus auf der Makro-Ebene muss sich jedoch grundsätzlich von jenem der Firmenebene unterscheiden, die sie ausmachen. Denn die Gewinne können nicht allesamt temporär sein oder wegkonkurriert werden, wenn der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Bestand haben soll.

Ohne Rendite kein Leben

Selbstverständlich kann ihr Anteil am jährlichen BIP mit der Zeit anwachsen oder schrumpfen, während die Unternehmen ihren dauerhaften Kampf um Marktanteile mit den Arbeitnehmern und der Regierung austragen. Kapitalismus ohne Gewinne ist jedoch wie ein schlagendes Herz ohne Blut. So sind nicht nur die Gewinne dafür zuständig, neue Investitionen (Blut) zu fördern und sie angemessen im Körper der Volkswirtschaft zu verteilen; im Gegenzug muss auch das Herz der Gewinne genährt werden, wenn es überleben soll.

Wer würde sonst sein Glück wagen?

Und ebenso wie die Gewinne für die Langlebigkeit unserer kapitalistischen Realwirtschaft unerlässlich sind, ist auch die «Rendite» beziehungsweise der «Carry» für unsere Finanzmärkte unerlässlich. Ohne die Erwartung eines Carrys, also eines Ertrags oberhalb der festgelegten, wenn auch wechselhaften Rendite, die sich aus dem Leitzins eines Landes ergibt, wären die Anleger nicht bereit, ihr Finanzkapital aufs Spiel zu setzen.

Eine kapitalistische Volkswirtschaft ginge demnach an Sauerstoffmangel zugrunde.

Der Carry – also der Ertrag –, von dem ich spreche, besteht für gewöhnlich in einer Kredit- oder Aktienrisiko-Prämie, die das Anlagekapital der Investoren in einem bestimmten Ausmass steigern oder schmälern kann. Zu den Finanzanlagen, die damit unmittelbar in Verbindung gebracht werden, zählen Unternehmens- und Hochzinsanleihen, Aktien sowie Private-Equity- und Schwellenländer-Investments.

Läge der Carry, der potenzielle Ertrag dieser Anlageklassen, nicht oberhalb der 25 Basispunkte, die der aktuelle US-Leitzins verspricht – wer würde dann schon sein Glück wagen?

Am Ende wird das Blut sauerstoffarm

In einem Anleihenportfolio lässt sich der Carry zudem durch eine Verlängerung der Duration oder einen Besitz von Positionen mit längeren Laufzeiten erzielen. Des Weiteren kann er durch einen Verkauf von Volatilität entstehen, oder durch einen Verzicht auf Liquidität und Erhalt einer sogenannten Liquiditätsprämie.

Es gibt also zahlreiche Wege, Carry zu erzielen. Für einen umfangreichen Markt aus Anlagemöglichkeiten sind diese für den Grossteil des «Betas» verantwortlich, das gegenüber dem «risikofreien» Zinssatz generiert werden kann; aufgrund der künstlichen Preise könnte all dies jedoch in Gefahr sein.

Carry stellt das schlagende Herz unserer Finanzmärkte und letztlich auch unserer Realwirtschaft dar. Denn die Gewinne der papierbasierten Vermögenswerte sind unmittelbar an die in der Realwirtschaft realisierten Gewinne geknüpft, die wiederum in unmittelbarem Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit und der Beschäftigung stehen. Ohne sie würde das verwundete Herz aufhören zu schlagen und kurz darauf der Körper sterben.

Doch unabhängig davon, wie viel Blut durch das System in seiner heutigen Form gepumpt wird, mit seinen Nullzinsen und globalen quantitativen Lockerungsprogrammen: Irgendwann gelangt man an einen Punkt, an dem das Blut selbst Gefahr läuft, anämisch und sauerstoffarm zu werden – oder sogar leukämisch, wobei die produktiven roten Blutkörperchen von den weissen Blutkörperchen zerstört werden.

Der falsch behandelte Patient

Unser globales Finanzsystem, in dem sich die Zinssätze nahe der Nullgrenze aufhalten, erinnert immer stärker an einen Leukämiepatienten, der mit einer neuartigen Chemotherapie behandelt wird: Es wird verzweifelt versucht, eine Volkswirtschaft mit monetären Mitteln zu heilen, die vielmehr einer strukturellen Lösung bedarf.

Lassen Sie mich von der Metapher auf das Konkrete übergehen, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Wenn Carry der Sauerstoff ist, der die Finanzanlagen nährt, ist es für alle ersichtlich – selbst den Notenbanken mit ihren historischen Modellen –, dass es derzeit wesentlich weniger davon gibt als zuvor.

Am Anleihenmarkt sind die Zinssätze, die Risikoaufschläge, die Volatilitäts- und die Liquiditätsprämien allesamt deutlich geringer, als sie es noch zu Zeiten der Finanzkrise vor fünf Jahren waren; in vielen Fällen liegen sie sogar auf ihrem niedrigsten Niveau aller Zeiten. So gab es vor dem Jahr 2009 in den USA nie einen so niedrigen Leitzins. Auch die kurzfristigen Zinsen Grossbritanniens sind mit 50 Basispunkten derzeit um knapp 2 Prozent niedriger als jemals zuvor – und das ist ein sehr, sehr langer Zeitraum.

Selbst während der zyklischen Abschwungphasen im 20., 19. und sogar im 18. Jahrhundert senkte die Bank of England ihren kurzfristigen Zinssatz niemals unter 2 Prozent.

Noch nie wurden Risiken so schlecht belohnt

Ergänzt man dies um die neuartige Chemotherapie, die auch als quantitative Lockerungsmassnahmen (QE) bezeichnet wird und überall zum Einsatz kommt – bei der Bank of Japan neuerdings sogar mit doppelter Dosis: Fertig ist die Alles-geben-koste-es-was-es-wolle-Mentalität, die die langfristigen Zinsen, Risikoaufschläge, Volatilitäts- und Risikoprämien auf ähnliche Extremniveaus reduziert hat.

Ein kritischer Beobachter könnte dem natürlich entgegnen, dass die Risikoaufschläge der Unternehmens- und Hochzinsanleihen in der Vergangenheit tatsächlich niedriger waren – beispielsweise in 2006/2007 –, auf ihre «Renditen» traf dies jedoch nie zu. Ein mit B/BB bewertetes Durchschnittsunternehmen war noch nie zuvor in der Lage, Schuldtitel mit Renditen von deutlich unter 5 Prozent zu begeben, und noch nie zuvor – und darauf möchte ich hinaus – erhielten die Anleger eine geringere Kompensation für die Risiken, die sie in Kauf nahmen.

Bücken und recken

Kürzlich twitterte ich: «Die Anleger reckten sich niemals so weit in die Höhe für derart geringe Erträge. Und niemals bückten sie sich so weit nach unten, wenn die Risiken so hoch waren.»

Im Zuge dieses Sich-Reckens und Sich-Bückens schossen die Kurse der Finanzwerte in die Höhe, während die Notenbanken in der Lage waren, eine Schuldendeflation vom Ausmass der Grossen Depression vorübergehend zu verhindern. Ihre Nullzinsen und quantitativen Lockerungsmaßnahmen verringerten den Carry und die Risikoprämien und erreichten auf diese Weise eine Stabilisierung der Realwirtschaft, brachten sie jedoch nicht auf ihre Wachstumsrate der «Alten Normalität» zurück.

In den Geschichtsbüchern dürften diese Maßnahmen als notwendige Sauerstoffgeneratoren beschrieben werden. Doch auch die missverstandenen Spätfolgen dieser Chemotherapie könnten eines Tages in die Annalen der Wirtschaftswelt eingehen oder sogar als Wirtschaftstheorie anerkannt werden. Die Notenbanken scheinen zu glauben, dass der fortlaufende Anstieg der Vermögenspreise das reale Wirtschaftswachstum zwangsläufig ankurbeln wird, und zwar dank der Auswirkungen des Reichtumseffekts auf den Konsum und die Realinvestitionen.

Diese Theorie sollte überprüft werden – allein schon aus dem Grund, dass sie nicht sonderlich gut zu funktionieren scheint.

Apple-Aktien rentieren besser als Apple-Anleihen

Eine mögliche Ursache hierfür ist zumindest dem Autor relativ klar: Sind die Renditen, Risikoaufschläge, Volatilitäts- und Liquiditätsprämien erst einmal auf einem derart niedrigen Niveau angelangt, gibt es immer weniger Anreize, Risiken einzugehen.

Natürlich könnten einige Anleger von festverzinslichen Anleihen auf höher «rentierende» Aktien umschichten oder von nationalen auf globale Alternativen; allerdings sind große Teile des Investmentuniversums nach regulatorische Vorgaben sowie demografischen oder persönlichen Risikopräferenzen segmentiert.

So scheint es, dass nur geringe Beträge zwischen Anlageinstrumenten wechseln und diese Instrumente offenkundig vergleichbar sind, wie Apple-Aktien mit einer Dividende von 3 Prozent und Apple-Anleihen mit Renditen von 1 bis 2 Prozent.

Es leben die Zombie-Unternehmen

Demnach sind die historische und die demografische Segmentierung des Anlagenmarkts dafür verantwortlich, dass das Handlungsmodell der Notenbanken sich als äusserst ineffizient erweist. Um zu unserer Metapher zurückzukehren: Zwar fliesst Blut ins System, es verfügt jedoch nicht über den nötigen Sauerstoff.

Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer bedeutender Gerinnungsmittel, die die Arterien des Finanzsystems bei einem niedrigen Zinsniveau und inakzeptabel geringem Carry und Risikoaufschlägen zu halten scheinen:

  • 1) Renditen nahe Null berauben die Sparer ihrer Fähigkeit, Zinseinkommen zu erzielen, und schränken somit den Konsum und das Wirtschaftswachstum ein.
  • 2) Ist der Carry aus Durationsverlängerungen oder Risikoaufschlägen geringer, wirkt sich dies zerstörerisch auf Geschäftsmodelle und das reale Wirtschaftswachstum aus. Wenn Banken, Versicherungen und Investmentgesellschaften nicht mehr ausreichend Carry generieren können, um ihre Beschäftigungsinfrastruktur aufrechtzuerhalten, kommt es  bald zum Personalabbau. Bei Banken drückt sich der geringere Carry in niedrigeren Nettozinsmargen aus, woraufhin landesweit bald eine Filiale nach der anderen geschlossen wird, die einst als Magneten für Spareinlagen dienten.
  • 3) Zombie-Unternehmen dürfen überleben. Ähnlich wie in der japanischen Wirtschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten von Nullzinsen und einem Mangel an Carry geprägt war, sichern geringe Zinsen, enge Risikoaufschläge, eine historisch niedrige Volatilität und übermäßige Liquidität irrelevanten Unternehmen das Überleben. Schumpeter wäre von dieser Perversion des Kapitalismus schockiert, die Gewinne von Zombie- Institutionen mehr als nur «temporär» sein lässt, während das Realwachstum verkümmert.
  • 4) Wenn die Anlageerträge beziehungsweise der Carry in der Realwirtschaft zu gering sind, greifen Unternehmen auf Finanzinstrumente zurück statt in Forschung und Entwicklung oder in Produktionsanlagen zu investieren. Apple verfügt über Hunderte Milliarden an Cash, die nicht in die künftige Produktion investiert, sondern in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen ausgeschüttet werden. Und das ist kein Einzelfall. Westliche Unternehmen sind offenkundig mehr auf die Rückzahlung des Kapitals fokussiert als auf dessen Investition. Dabei scheinen die niedrigen Anlageerträge, die durch Notenbankinterventionen an den Finanzmärkten gefördert werden, die Investitionstätigkeit und das Realwachstum immer stärker zu beeinträchtigen.
  • 5) Die Kreditausweitung des Privatsektors wird durch die sich verlängernde Bilanz der US-Notenbank und die Beschränkungen von Pensionsgeschäften mit US-Staatsanleihen begrenzt. Und dennoch sind die privaten Kreditmärkte in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, der Realwirtschaft Sauerstoff zuzuführen, da die meisten neu begebenen US- Staatsanleihen im Verlies der Federal Reserve landen. Dort können sie nicht verlängert, weiterverliehen oder weiterverpfändet werden, um das private Kreditwachstum zu fördern. Ich habe schon einmal angedeutet, dass die US-Notenbank der Ort ist, an dem alle schlechten Anleihen landen, um dort zu verenden (was auch für andere Notenbanken gilt). 

Dann wäre da noch meine bislang unvollständige These, die in Kurzfassung wie folgt lauten würde: Niedrige Renditen, geringer Carry und bescheidene Ertragserwartungen wirken sich zunehmend negativ auf die Realwirtschaft aus.

Die Notenbanken als Teil des Problems

Auch wenn der amerikanische Notenbankchef Ben Bernanke dies häufig bestätigte, beruft er sich dennoch stets auf einen hoffnungsvollen Ausgang, in dem die Finanzmärkte ihre durch die Anleger ersehnten, ehemaligen Niveaus von Rendite, Carry, Volatilitäts- und Liquiditätsprämien zurückerlangen, sobald das Realwachstum der «Alten Normalität» wiederhergestellt ist. «Es gilt, heute Zugeständnisse zu machen», so belehrt Bernanke die Anleger, «um zu einem späteren Zeitpunkt Gewinne zu erzielen.»

Aber inzwischen sind fünf Jahre vergangen, und die US-Realwirtschaft ist in einem Zeitraum von zwölf Monaten nicht ein einziges Mal um mehr als 2,5 Prozent angewachsen. Vielleicht ist neben der fiskalpolitischen Verwirrung in Washington inzwischen auch Bernankes Politik zu einem Teil des Problems geworden und nicht der Lösung.

Vielleicht pumpt das schlagende Herz anämisches oder sogar vernichtendes, leukämisches Blut durch das System.

Vielleicht machen Nullzinsen und qualitative Lockerungsprogramme mittlerweile einen ebenso grossen Teil des Problems aus wie der Lösung. Wenn die Renditen, der Carry und die Ertragserwartungen von Finanz- und Sachwerten so weit zurückgehen, werden risikobereite Anleger vielleicht zurückhaltender und konservativer, nicht extrovertierter und risikofreudiger.

Vielleicht unterliegen die Finanzmärkte und das reale Wirtschaftswachstum höheren Risiken, als ihr ruhiges Auftreten es vermittelt.

Eine Schuldenkrise kann nur mithilfe von immer mehr Schulden geheilt werden, wenn sie Realwachstum schafft. Derzeit schlägt das Herz arhythmisch und pumpt sauerstoffarmes Blut durch den Kreislauf. Daher sollten die Anleger nach einem Herzschrittmacher Ausschau halten und einem risikoärmeren und niedriger rentierlichen, gleichzeitig jedoch lebenserhaltenden Pfad folgen.

Resumé:

  • Finanzmärkte benötigen Carry, um die Realwirtschaft mit Sauerstoff zu versorgen.
  • Dieser ist gering – Renditen, Risikoaufschläge und Volatilität befinden sich auf oder nahe ihrer historischen Tiefstände.
  • Der Plan einer quantitativen Lockerung der US-Notenbank geht davon aus, dass die erhöhten Vermögenspreise das Wachstum ankurbeln werden.
  • Dieser Plan scheint nicht aufzugehen.
  • Risiko- beziehungsweise Carry-bezogene Anlagen werden zurückgefahren.
War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
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