Warum eine Familienverfassung gerade für Unternehmerfamilien zentral ist, erläutert Benjamin Vetterli, Senior Family Advisor bei der LGT.


Herr Vetterli, was versteht man unter einer Familienverfassung und warum ist diese wichtig?

Eine Familienverfassung wird oft auch als Familiencharta, -kodex oder -pakt bezeichnet. Unabhängig von der Benennung ist es entscheidend, dass in einer Familienverfassung die Werte der Familie festgehalten sind, mit denen sich alle Familienmitglieder identifizieren können. Obwohl nicht rechtlich bindend, stellt sie doch eine wichtige Übereinkunft innerhalb der Familie dar und strahlt auf rechtliche Regelungen wie Ehe- und Erbverträge, Aktionärsbindungsverträge und die Aufsetzung spezieller rechtlicher Strukturen aus.

Geld, Tod, Mitsprache, Werte, Zugehörigkeit… all das kommt bei der Erstellung einer Familienverfassung zur Sprache. Wie schaffen Sie es als aussenstehender Berater, die Familienmitglieder für ein solches Regelwerk zu gewinnen?

Es kann ein Minenfeld sein, da einfach sehr viele Emotionen im Spiel sind. Eine Familie braucht aber zur Unterstützung fast zwingend einen unabhängigen, neutralen Dritten, gerade um den Prozess in Gang zu bringen: Ein gutes Beispiel ist das Thema Nachfolge. Sie wird normalerweise in Familienverfassungen geregelt, Viele Unternehmerfamilien haben Mühe, die Nachfolge anzusprechen. Grundsätzlich sollte es die Aufgabe der älteren Generation sein, dieses Thema in der Familie anzustossen; das ist zumindest die Meinung in der Fachliteratur und unter Experten.

In der Praxis tun sich jedoch viele Eltern schwer damit, diese Diskussion zu eröffnen, obwohl sie wissen, dass dieses Thema zentral ist. Häufig wollen sie ihre Kinder nicht dazu drängen, eine bestimmte Rolle zu übernehmen. Andere wiederum fangen nicht damit an, weil sie ihre Führungsrolle noch nicht an die jüngere Generation abgeben wollen. Diese hingegen würde meist sehr gerne über Nachfolge und die anderen Aspekte einer Familienverfassung diskutieren. Sie wollen ihr Leben planen und zum Beispiel wissen, wer das Familienunternehmen übernehmen soll. Diese berechtigte Frage offen auszusprechen, fällt den Jungen trotzdem oft nicht leicht.

Damit haben wir in Familien eine Pattsituation: Zwei Parteien wollen über das Thema reden, aber niemand spricht es an. Deswegen sind viele Familien über Hilfe von aussen dankbar.

Wie können Sie als externer Berater den Dialog in Gang setzen?

Anfangs gilt es, das Eis zu brechen. Wir starten meist mit einem kurzen Fragenkatalog zum gemeinsamen Verständnis der aktuellen Situation. Wir erkundigen uns beispielsweise, ob bereits eine Nachfolgeregelung besteht und diese bekannt ist, oder ob die Familie gemeinsame Werte formuliert hat. Interessant dabei: Oft kommt es vor, dass Eltern im Gegensatz zu ihren Kindern diese Fragen bejahen und die Situation für sie klar ist. Dieses Missverhältnis öffnet vielen Familien die Augen und regt zu ersten Diskussionen an.

Was ich in dieser Phase regelmässig feststelle: Gerade der klassische Familien-Patron und Unternehmer ist mit seinen Fragen zur Organisation von Familie und Unternehmen alleine. Daher bietet die LGT Plattformen, um sich mit anderen auszutauschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Das kann ein Roundtable sein oder das LGT Family Forum – ein Seminar zum Thema Family Governance. Dieser Rahmen vereinfacht eine offene Diskussion und wird als sehr bereichernd empfunden.

Wichtig für den Erfolg ist, dass beim Start des Prozesses zur Formulierung einer Familienverfassung von allen Familienangehörigen die Regeln fürs Vorgehen festgelegt werden und alle involviert bleiben. In einem ersten Schritt werden meist in Einzelgesprächen mit allen Familienmitgliedern das Verständnis der aktuellen Situation, die Bedürfnisse und Ziele der Familienmitglieder erfragt und zu einem ersten Gesamtbild konsolidiert.

Wenn dieses Fundament gelegt ist, was sind dann die nächsten Schritte?

Zentral ist die Diskussion um gemeinsame Werte. Sie sind die Basis von allem. Im Mittelpunkt stehen folgende Fragen: Für was steht unsere Familie? Was ist unsere Strategie, was unsere Vision? In welche Richtung wollen wir als Familie in Zukunft gehen?

Insbesondere für die ältere Generation sind die Fragen um die Weitergabe von Werten wichtig. Dies umso mehr, wenn die Kinder die Gründer des Familienunternehmens nicht mehr gekannt haben. Oder anders gesagt: Die Werte der Gründergeneration sind für die Identifikation der jungen Generation mit Familie und Familienunternehmen besonders wichtig.

Bei diesem offenen Austausch treten auch strittige Themen zutage. Diese sollten nacheinander angesprochen und in jedem Punkt eine Einigung gefunden werden. Das ist ein iterativer Prozess, der viel Zeit braucht. Es lohnt sich jedoch, sich die Zeit zu nehmen, um einen Katalog gemeinsamer Werte und Ziele zu erarbeiten. Dies ist die Basis für die Formulierung einer Familienverfassung. Tragfähig ist das Dokument aber erst dann, wenn alle Familienmitglieder dahinterstehen können.

Eine Familienverfassung ist rechtlich nicht bindend. Wieso ist sie für vermögende Familien und insbesondere Unternehmerfamilien trotzdem wichtig?

Idealerweise findet die Familie bei der Erarbeitung einer Familienverfassung einen gemeinsamen Nenner für die Zukunft. Durch die aktive Einbindung aller Mitglieder ist sie grundsätzlich viel tragfähiger als ein rechtliches Dokument, das jede Eventualität regeln will und dennoch vor Gericht angefochten werden kann.

Da das Vermögen in diesen Familien meist zu einem grossen Teil im Unternehmen gebunden ist, können bei einer Nachfolge häufig nicht alle Kinder gleichbehandelt werden. Wurde das gemeinsam im Rahmen der Familienverfassung diskutiert und konnten sich alle einbringen, sind einzelne Familienmitglieder eher bereit, auf einen gewissen Teil zu verzichten. Auch das ist ein Aspekt, der für die Erstellung einer Familienverfassung spricht.

Und ist der Prozess mit der Formulierung abgeschlossen?

Damit eine Familienverfassung über längere Zeit bestehen kann, sollte sie sich entwickeln können: Die gemeinsame Wertebasis sollte von jeder Generation überprüft und an die sich verändernden Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden. Damit ist sie eine gute Grundlage für konkrete, rechtlich verbindliche Dokumente, zum Beispiel Verträge und Strukturen.

Jede Generation muss sich neu finden, um in ihrer Situation neue, tragfähige Lösungen zu schaffen. In traditionell patriarchalisch orientierten Ländern wie Italien findet aktuell ein gesellschaftlicher Wertewandel statt. Ausdruck davon ist, dass traditionell vom ältesten Sohn allein geführte Unternehmen wie Barilla oder Antinori nun sehr erfolgreich gemeinsam von den Geschwistern geleitet werden. Welche Regelungen dafür in die Familienverfassung aufgenommen werden, hängt jedoch letztlich immer von den individuellen Gegebenheiten in der Familie ab.


Benjamin Vetterli ist bei der LGT Bank Schweiz als Senior Family Advisor UHNWI tätig. Er berät seit 20 Jahren Unternehmen und Unternehmer in steuerlichen, Governance und rechtlichen Fragestellungen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich, bestandener Anwaltsprüfung und Abschluss der Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Steuerexperten führte sein Weg über PwC als Senior Consultant Tax zu einer Schweizer Grossbank wo er in verschiedenen leitenden Rollen verantwortlich für die Steuer-, Finanz- und Nachfolgeberatung von Kunden in der Schweiz war.