Lügen ist verwerflich, sagt die gängige Moralvorstellung. Doch im Berufsleben zeigt sich: Wer nie lügt, schadet nicht nur seiner Karriere, sondern auch den Kollegen.

Die Lüge, nach christlicher Werthaltung ein Verstoss gegen göttliches Gebot, beherrscht derzeit die politische Bühne. Als «alternative Fakten», wenn sie der eigenen Sache dient – oder aber als «fake news», wenn der Gegner gebrandmarkt werden soll.

Das postfaktische Zeitalter, wie unsere Gegenwart zuweilen bezeichnet wird, beschränkt sich indes nicht nur auf Politik und Populisten. Mindestens so en vogue sind Lügen im Berufsleben. Wie die deutsche «Wirtschaftswoche» (Artikel bezahlpflichtig) berichtete, wird nirgends so viel gelogen wie in Büros und Konferenzräumen.

Wo die Selbstvermarktung aufhört

Das Magazin zitierte dabei mehrere Studien, nach denen jeder dritte deutsche Berufstätige gestand, seinen Kollegen gegenüber regelmässig unehrlich zu sein. Jeder Fünfte beschummelt seinen Chef, und 60 Prozent fanden, dass sich Ehrlichkeit nicht auszahlt. Und über 30 Prozent kamen gar zum Schluss: Manchmal muss man für die eigene Karriere lügen.

Herrschten bei Immanuel Kant im 18. Jahrhundert noch klare Verhältnisse – der deutsche Philosoph nannte die Lüge ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person – sind die Übergänge in der von zunehmender Kommunikation geprägten Arbeitswelt weniger scharf umrissen. Wo hört die Selbstvermarktung auf, wo fängt die Lüge an? Diese Frage ist heute nicht so einfach beantworten.

Das Dilemma fängt schon bei der Bewerbung an. Wo sehen sie sich in zehn Jahren? Was sind ihre Stärken und Schwächen? Auf solche Fragen müssen Kandidaten blitzschnell eine Antwort parat haben. Ob sie dabei etwas zusammenphantasieren, ist schwer messbar – genausowenig wie Teamgeist oder Flexibilität es sind. Entsprechend nehmen es Bewerber mit der Wahrheit nicht so genau, wenn es der eigenen Sache nützt.

Der wendige Aal schwimmt schneller

Der Bericht zitierte dazu eine weitere Umfrage in Deutschland, wonach 74 Prozent Schummeleien zugunsten persönlicher Interessen harmlos fanden.

Ist man einmal «drin», entdeckt man schnell: Der im Umgang mit Fakten wendige Aal macht im Betrieb schneller Karriere als der sture Esel. Doch auch, wenn einem Lügen nicht leicht von den Lippen gehen, nimmt man es bei der Arbeit mit der Wahrheit besser nicht zu genau: Denn was würde geschehen, wenn jeder im Büro ehrlich wäre und jederzeit offen sagte, was er denkt? Mit dem Teamgeist und der Kollegialität wäre es schnell vorbei.

Tatsächlich können offensichtliche Lügen einem im Team gar Pluspunkte einbringen, wie die amerikanischen Psychologen Emma Levine und Maurice Schweitzer in einem Experiment herausfanden. Bei den Tests wurden Lügner, die anderen halfen, besser als jene bewertet, die ihrem Gegenüber mit ihrer Ehrlichkeit schadeten. Anders gesagt: Selbstlose Lügner kamen besser weg als ehrliche Egoisten.

Authentizität kann schaden

Wer höher klettert, für den wird die Lüge gar Teil des Stellenbeschriebs, wie manche Experten urteilen. Von Chefs wird verlangt, die Belegschaft zu motivieren, die Kunden zu begeistern und die Aktionäre bei der Stange zu halten. Viele Manager überlegen sich deshalb ganz genau, welche Informationen sie übermitteln. «Es ist unmöglich, immer komplett ehrlich zu sein», sagte ein Kommunikations-Coach zur «Wirtschaftswoche». Das könne als unehrlich angesehen werden. Er finde aber: «Wo Authentizität Schaden anrichtet, hat sie nichts verloren.»

Indes: Im Arbeitsleben mag die Lüge zuweilen gebilligt sein oder gar als vernünftig erscheinen – doch werden ihre sprichwörtlichen Beine dadurch nicht länger. Fliegt die Schummelei auf, setzen die althergebrachten Moralvorstellungen ein, und eine Karriere kann ganz schnell vorbei sein.

Glücklich kann sich daher schätzen, wer einen Ruf wie Jamie Dimon geniesst: Dem langjährigen Chef von J.P. Morgan und wohl einflussreichsten Banker der Welt wird nachgesagt, dass er immer die Wahrheit sagt. Aber wohl auch nur, weil er sich gar nicht mehr verstellen muss.